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Der UN-Beauftragte für das Recht auf Nahrung, Olivier De Schutter, warnt vor neuen Hungerkrisen, plädiert für eine neue Landwirtschaft und sieht den westlichen Glauben an Biotreibstoff als Skandal.

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STANDARD: Die Regime in Tunesien und Ägypten wurden durch Proteste gestürzt, die zum Teil durch hohe Preise von Lebensmitteln verursacht wurden. Verliert eine Regierung ihre Legitimität, wenn sie ihre Bevölkerung nicht ernähren kann?

De Schutter: Die beiden Länder sind sehr von Importen abhängig, vor allem von Weizen. Ägypten importiert 60 Prozent seines Weizens, Tunesien 40 Prozent seines Nahrungskonsums. Es wäre übertrieben zu sagen, dass die hohen Preise ein Hauptgrund waren. Aber sie haben die Ungeduld der Bevölkerung erhöht.

STANDARD: Preissteigerungen waren mitverantwortlich für die Nahrungsmittelkrise 2007/2008. Die Preise sind bereits über diesem Niveau. Kommt eine neue Krise?

De Schutter: Wir sind bereits in einer Krise. Die Preise sind so hoch wie nie. Der Unterschied zu 2008 ist, dass der Preis für Reis relativ stabil geblieben ist, weil Vietnam und Thailand ihre Exporte nicht eingeschränkt haben. Auf den internationalen Märkten sind die Preise seit 2008 zwar gesunken, auf den lokalen sind sie aber hoch geblieben - in meisten Entwicklungsländern waren sie im Juni 2009 höher als ein Jahr zuvor. Jetzt verschlimmert sich die Lage, weil die Preise auf den internationalen Märkten so hoch sind.

STANDARD: Auf was müssen wir uns also einstellen?

De Schutter: Das weiß niemand. Viel hängt davon ab, wie die Ernte des Winters ausfällt, die im April erwartet wird. Wir wissen bereits, dass die Weizenernte in China ziemlich gering sein wird. Wir wissen, dass der jüngste Preisanstieg eine hohe Zahl von Hungernden bedeutet. Laut FAO hatten wir Anfang 2010 etwa 925 Millionen Hungernde. Jetzt haben wir die Milliarde höchstwahrscheinlich wieder überschritten.

STANDARD: Ihr aktueller Bericht ist ein Plädoyer für Agrarökologie - sie könne die Nahrungsmittelproduktion in Entwicklungsländern innerhalb von zehn Jahren verdoppeln.

De Schutter: Der bisherige Ansatz mit chemischen Düngemitteln und der Mechanisierung hat die Mengen erhöht. Aber das Modell ist vielen Farmern in Entwicklungsländern nicht zugute gekommen, die keinen Zugang zu Krediten haben, denn es ist sehr teuer, so zu produzieren. Gleichzeitig ist der Ansatz zerstörerisch für die Umwelt gewesen. Mit agrarökologischen Techniken kann die Produktion sehr gesteigert werden. Das ist auch umsetzbar für Farmer in Entwicklungsländern - und es schmälert den Klimawandel und schützt die Ökosysteme.

STANDARD: Müssen wir auch in den Industriestaaten die Landwirtschaft neu überdenken?

De Schutter: Unsere Landwirtschaft ist sehr von Gas und Öl abhängig. Diese Verbindung zwischen Energie- und Nahrungsmittelmärkten ist höchst problematisch. Wir müssen umstellen, wenn wir nicht mit einer massiven Krise konfrontiert sein wollen, wenn Öl und Gas Höchstpreise erreichen.

STANDARD: Die Abhängigkeit ist für westliche Regierungen das Argument, um Biotreibstoffe zu propagieren. Ist das vertretbar - angesichts der Landaufkäufe und der großen Flächen, die für Pflanzen zur Energiegewinnung genutzt werden?

De Schutter: Es ist völlig unverantwortlich von der EU und den USA, diesen Weg weiterzugehen. Die Produktion von Biobrennstoffen ist ein Grund, warum die angespannte Lage auf den Agrarmärkten so groß geworden ist. In Entwicklungsländern kann Bioenergie die Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen mindern und Elektrizität in ländlichen Gebiete schaffen. Doch in der EU und den USA ist es einfach verrückt. Die USA verwenden 38 Prozent ihrer Maisproduktion für Ethanol, Deutschland einen großen Teil von Raps für Biodiesel. Große Mengen an Pflanzenöl werden aus Südasien und Lateinamerika importiert. Biotreibstoff führt zu Landspekulationen, Vertreibungen von Farmern und Rodungen. Es ist ein Skandal - das wird jeder sagen, der was über Agrarmärkte und Lebensmittelsicherheit weiß. (Julia Raabe, DER STANDARD, Printausgabe, 12./13.3.2011)