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Das Gerippe der äußeren Schutzhülle von Reaktor 1

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Wien - Das Wort selbst hat bereits einen sinistren Klang: Kernschmelze. Was genau geht in den havarierten Reaktoren eigentlich vor? Das Herzstück eines handelsüblichen Atomkraftwerks ist der Reaktorkern. Er beinhaltet zahlreiche, gut fingerdicke Brennstäbe. Sie bestehen aus radioaktivem Urandioxid (UO2) oder einem Gemisch aus diesem Material und Plutoniumoxid oder Thoriumoxid. Jeder Brennstab hat eine eigene Metallhülle. Diese besteht zu über 90 Prozent aus Zirconium (Zr). Reaktorkerne wie die in Fukushima funktionieren wie gigantische Tauchsieder. Sie befinden sich in einer mit Wasser gefüllten Reaktorkammer. Die durch den radioaktiven Zerfallsprozess in den Brennstäben entstehende Hitze erzeugt Dampf, der über Leitungen abgeführt wird und in einem Nebengebäude Turbinen antreibt.

Die Hitze entstammt einer Kettenreaktion. Wenn etwa ein Uranatom zerfällt, wird nicht nur Energie freigesetzt, es werden auch zwei bis drei Neutronen weggeschleudert. Diese Teilchen prallen auf ein anderes Atom und verursachen dessen Zerfall. Je mehr freie Neutronen, desto schneller verläuft die nukleare Reaktion. Wenn diese in einem AKW gebremst oder gestoppt werden soll, fahren die Techniker Steuerstäbe aus Neutronen-absorbierendem Material in den Reaktorkern ein.

Auch nach einer Abschaltung produzieren die Brennstäbe noch Wärme. Sie beträgt zwar nur wenige Prozent der Normalleistung, kann aber dennoch zu rapide steigenden Temperaturen führen. Wenn sich, wie in Fukushima, der Reaktorkern nicht kühlen lässt, geht die nukleare Glut unkontrolliert weiter. Das Reaktorwasser siedet und verdampft, der Druck steigt. Es kann zu einer Dampfexplosion kommen. Die nicht mehr in Wasser eingetauchten Brennstäbe erreichen Temperaturen bis 2500 Grad, das Uranoxid und die Metallhülle schmelzen. Zudem reagiert glühendes Zirconium mit dem Wasserdampf. Es entstehen ZrO2 sowie hochentzündliches Wasserstoffgas. In Fukushima hat letzteres möglicherweise die Explosion ausgelöst.

Glühende Masse durchfrisst Wände

Derweil verschmelzen im Reaktorkern die Brennstäbe mit den Hüllen. Die glühende Masse bahnt sich einen Weg zum Boden der Reaktorkammer. Das Gemisch enthält auch Spaltprodukte, darunter Cäsium-137 und Strontium-90, die leicht von Lebewesen aufgenommen werden. Aufgrund seiner enormen Hitze kann sich ein geschmolzener Kern durch die Kammerwand und sogar durch die Betonwände der Sicherheitshülle fressen. Was dann passiert, vermag niemand vorherzusagen. Denkbar wäre, dass sich das Gemisch ins Erdreich einbrennt und das Grundwasser verseucht.

Seit AKWs betrieben werden, ist es bereits mehrfach zu Kernschmelzen gekommen. Beim Unfall von Three Mile Island 1979 in den USA kam die Katastrophe praktisch von alleine zum Stehen, in Tschernobyl hingegen setzten eine Explosion und brennendes Grafit, das im Reaktorkern eingebaut war, große Mengen radioaktiver Spaltprodukte in die Atmosphäre frei. (red, DER STANDARD; Printausgabe, 14.3.2011)