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Eine Frau versucht mit ihrer isolierten Tochter zu reden, die in Fukushima radioaktiv verstrahlt wurde.

Foto: Yuriko Nakao / Reuters

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Wolfgang Kromp ist Leiter des Instituts für Risikoforschung an der Universität für Bodenkultur in Wien.

Foto: AP Photo/CTK, David Veis

Standard: Der Betreiber von Fukushima geht von partiellen Kernschmelzen in den Reaktoren aus - was sind die Folgen für die Gegend?

Wolfgang Kromp: Das kann man noch nicht genau sagen, aber schrebergarteln würde ich dort nicht mehr. Mehrere Szenarien sind denkbar: Im besten Fall werden kleinere Sperrgebiete um den Reaktor eingerichtet. Wenn es schlimmer kommt und radioaktives Material etwa ins Meer gelangt, kommt es über die Meerestiere in die Nahrungskette. Wenn im schlimmsten Fall mehrere Reaktoren eine unkontrollierte Schmelze und einen Bruch der Schutzhüllen erleben, dann kann das Tschernobyl übertreffen.

Standard: Wie lange bleibt die Situation noch kritisch?

Kromp: Wenn es noch ein bis zwei Tage gelingt, das unter Kontrolle zu halten, könnte man aus dem Schneider sein - wenn keine weiteren Beben kommen. Die Nachzerfallswärme in den Reaktoren sinkt, gleich am ersten Tag nach dem Abschalten fällt sie von sieben Prozent der Leistung auf ein Prozent. Das ist eine exponentielle Kurve, am Anfang fällt das sehr schnell und verflacht dann.

Standard: Rechnen Sie mit Schäden in weiteren Kraftwerken?

Kromp: Das Beben hat den ganzen Kraftwerkspark im Norden erschüttert, mit weiteren Ausfällen muss man auf jeden Fall rechnen.

Standard: Kann man japanische Reaktoren in Zukunft sicherer machen?

Kromp: Die Japaner haben bereits ein sehr hohes Sicherheitsniveau und waren auch gewarnt, das war ja nicht das erste schwere Erdbeben. Die technische Machbarkeit ist eben auch begrenzt. Es war sicher ein schwerer Fehler, dass sich Japan auf die Atomenergie eingelassen hat.

Standard: Welche Konsequenzen sollten europäische Staaten aus der Katastrophe ziehen?

Kromp: Als Erstes müssen die Siedewasserreaktoren aus dem Verkehr gezogen werden. Es gibt glücklicherweise weniger Siede- als Druckwasserreaktoren, das Verhältnis ist etwa zwei bis drei zu eins.

Standard: In Mitteleuropa gibt es kaum Erdbeben. Sind Kraftwerke hier sicherer?

Kromp: Überall kann es zu einem Vernichtungsbeben kommen - auch in Gegenden, die bei uns als seismisch minderbelastet oder aseismisch gelten. Wir schätzen sie nur so ein, weil Periodizität von Beben hier sehr viel geringer ist. Wenn in einer Gegend ein Beben alle 100 Jahre vorkommt, wird das aufgezeichnet. Wenn es aber nur alle 10.000 Jahre kommt, ist das völlig unbekannt. Hier kann die Palio-Seismologie helfen: Man untersucht das Erdreich über Bruchlinien und zieht so Schlüsse auf vergangene Beben.

Standard: Ist das schon passiert?

Kromp: Leider nein. Wir versuchen das seit Jahren durchzusetzen. Stellen Sie sich vor, es kommt heraus, dass bei einem Kernkraftwerk alle 500 Jahre mit einem Erdbeben zu rechnen ist, und es gab bereits 450 Jahre keines mehr, dann ist Feuer am Dach. Es kann natürlich auch alles bestens sein, aber das wüsste ich gern.

Standard: Zumindest mit Tsunamis ist hier nicht zu rechnen.

Kromp: Wenn in einen Stausee ein Fels stürzt, dann kann eine Welle über die Staumauer schwappen oder die Mauer zerstören. Zudem stehen Kernkraftwerke bevorzugt an Flüssen, und die bewegen sich gern entlang seismischer Bruchlinien, weil sie dort Vertiefungen vorfinden. Kernkraftwerke liegen also sehr, sehr häufig in seismisch belasteten Gegenden. (Tobias Müller, DER STANDARD-Printausgabe, 15.3.2011)