Hans Mathias Kepplinger.

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STANDARD: Haben Medien angemessen auf die Ereignisse in Japan reagiert?

Kepplinger: Die Berichterstattung hat sich sehr schnell vom eigentlichen Elend, das dort zu beobachten ist, auf die Risiken der Kernkraft verlagert. Diese Verlagerung ist unverhältnismäßig. In den Berichten überwiegend um das mögliche Leid statt um das tatsächlich vorhandene Leid von hunderttausenden Menschen. So ersetzen Spekulationen Nachrichten. Was die Sache noch schlimmer macht, ist die permanente Konzentration auf technische Ähnlichkeiten der Kernkraftwerke in Japan und Deutschland. So wird ein spezifisches Problem Japans ohne hinreichende sachliche Begründung egozentrisch zu einem Problem Deutschlands gemacht.

STANDARD: Stellen Sie Ähnlichkeiten zur Berichterstattung über Tschernobyl fest?

Kepplinger: Die Konzentration der Berichterstattung auf die angebliche Ähnlichkeit von deutschen und japanischen Risiken folgt genau dem Muster nach Tschernobyl. Damals widmete die Presse den Störfall schnell von einem russischen zu einem deutschen Risiko um. Frankreich hatte in etwa die gleiche Strahlenbelastung wie Deutschland. Das Thema dort aber eindeutig als Risiko sowjetischer Kernkraftwerke präsentiert. Ein Teil der deutschen Medien instrumentalisiert das Problem, um Politik zu machen.

STANDARD: Welche Politik?

Kepplinger: Die Mehrheit der deutschen Journalisten wurde im Lauf der Jahrzehnte zu entschiedenen Kritikern der Atomkraft. Etwa 35 Prozent der deutschen Journalisten bekennt sich zu den Grünen, weitere zehn Prozent zur SPD, die Hälfte nennt ihre Parteineigung auch nicht. Diese Mehrheit sieht ihre Chance dadurch, durch intensive Berichterstattung über die Gefahren der Kernkraft, die zweifellos vorhanden sind, ihrer Sichtweise Ausdruck zu verleihen.

STANDARD: Welche Bedeutung haben die Bilder in der öffentlichen Wahrnehmung?

Kepplinger: Die Bilder prägen die Wahrnehmung entscheidend. Das betrifft sowohl die Aufnahmen von der Flutwelle wie auch die wiederholten Bilder von den Kernkraftwerken. Das geht so weit, dass eine hiesige Zeitung am Montag mit einem Bild aufmacht hat, das von den meisten Zeitungen schon am Samstag vorher gedruckt worden war, nämlich die Explosionswolke über einem der Kernkraftwerke. Hier geht es erkennbar nicht um Neuigkeit, nicht um Information. Es geht um Stimmungsmache. Nicht die Bilder etwa vom Leid der Menschen dominieren die Berichterstattung, sondern die Ideologie.

STANDARD: Bei den Kernkraftwerken herrscht ein Mangel an Bildern, deshalb werden sie ständig wiederholt?

Kepplinger: Es passiert nichts Neues, was man bildhaft darstellen kann, also werden die bekannten Bilder wiederholt oder in einen Kontext mit Tschernobyl gepresst, in der Erwartung, dass das Ängste hervorruft.

STANDARD: Stellen Medien die Gefahren von Atomkraft übertrieben dar?

Kepplinger: Sie stellen die Gefahren im Verhältnis zu anderen übertrieben dar. Es gibt hier Gefahren, die größer sind. Gäbe es hier ein Erdbeben mit der vergleichbaren Stärke gäbe, würden wahrscheinlich weitaus mehr Menschen von den Trümmern ihrer Häuser erschlagen werden, die dafür nicht ausgelegt sind, als an radioaktiver Strahlung sterben.

STANDARD: Wie sollten Medien angemessen reagieren?

Kepplinger: Zum Beispiel wie die Neue Zürcher Zeitung in ihrer Sonntagsausgabe mit einem nüchternen Bericht über die Risiken der Kernkraft oder die Frankfurter Allgemeine Zeitung am Montag mit einer ausführlichen Darstellung über die realen Risken und die Mechanismen von Kernkraftwerken. Es gibt durchaus Möglichkeiten, diese Themen nüchtern zu behandeln, ohne die Ähnlichkeiten zwischen Japan und Deutschland an den Ohren herbeizuziehen.

STANDARD: Welche Rolle spielen in dieser Parallelität Facebook und Twitter?

Kepplinger: Die Einstellung der Journalisten gegen Kernkraft ist lange gewachsen, so dass es eine Verstärkung durch Facebook nicht braucht. Die Mehrzahl der Menschen, die sich dort äußert, sind relativ jung, hoch gebildet, links. Man kann vermuten, dass sich die Mehrheit ablehnend zu Kernkraft äußert, mit der Folge, dass sich Journalisten in ihrer Einstellung bestätigt fühlen.

STANDARD: "Wie im Science-Fiction-Film", wirken die Bilder von der Zerstörung, lesen und hören wir. Woher kommt der Vergleich mit dem Fiktiven?

Kepplinger: Generell schafft bildende Kunst bestimmte Sichtweisen. Ein Beispiel ist die Entdeckung der Zentralperspektive in der Renaissance oder im Impressionismus die Vorstellung von Wellen. Das geschieht auch durch Katastrophenfilme. Sie etablieren Wahrnehmungsschemata und wenn reale Aufnahmen ähnliches zeigen, erinnert man sich daran und ordnet sie in diese Schemata ein. Das ist ein Problem für eine rationale Auseinandersetzung mit Kernenergie, weil alles passend gemacht wird zu den vorhandenen Stereotypen.

STANDARD: Folgen die Nachrichtenbilder aus Japan einer Science-fiction-Dramaturgie?

Kepplinger: Sonntag gab es in der ARD einen ausgezeichneten Bericht aus Japan mit einer Zusammenstellung von Bildern auch aus dem Netz. Natürlich folgt eine solche Darstellung dramaturgischen Gesetzen. Da ist beispielsweise die Konzentration auf die stärksten Eindrücke. Dagegen ist nichts auszusetzen, denn diese Katastrophe sprengt jede Vorstellung, die man normalerweise durch Nachrichtenbildern gewinnt.

STANDARD: Die Dominanz des Themas bringt andere Schauplätze zum Verschwinden. Sind zwei Katastrophen eine zuviel?

Kepplinger: Es ist leider so, dass nur die größten Katastrophen öffentliche Aufmerksamkeit haben. Jedes Mal, wenn eine Großkatastrophe entsteht, werden andere in den Hintergrund gedrängt. Das war beim Völkermord in Uganda so, mit der Konsequenz, dass viele andere Konflikte in Afrika keine Chance auf Öffentlichkeit hatten. Der Grund ist eine automatische Reaktion des Publikums, das eine sehr begrenzte Aufmerksamkeit hat und sich auf die scheinbar gravierendste Gefahr konzentriert. Dagegen kann man nichts machen.

STANDARD: Welche Folgen wird die Berichterstattung auf die Debatte haben?

Kepplinger: Für Deutschland wird es mit großer Wahrscheinlichkeit die anstehenden Landtagswahlen beeinflussen und zwar zu Gunsten der Grünen. Mit großer Wahrscheinlichkeit wird auch die Debatte zur Kernraft in Deutschland erheblich an Schärfe zunehmen. (Doris Priesching/DER STANDARD; Printausgabe, 15.3.2011/Langfassung)