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Ein Surfer am Strand, im Hintergrund das Atomkraftwerk von Kashiwazaki, aufgenommen 2007. Hat die Politik zu sehr auf Experten vertraut? Das fragt man sich heute.

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Nico Stehr hinterfragt Wissen, Macht und Demokratie.

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Das gilt für den Klimawandel wie für das Erdbeben in Japan.

Ist es wirklich so schlimm? Das zu hinterfragen nahm sich der deutsche Kulturwissenschafter Nico Stehr in seinem Vortrag vergangenen Montag an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften vor. Der Zeitpunkt konnte kaum aktueller sein, standen die Ereignisse in Japan doch im Raum. Sind sie die Folge einer zu sehr auf Experten vertrauenden Politik? Ist die "Wissensgesellschaft" – ein Begriff, den Stehr als Koautor in den 80er-Jahren in die Diskussion eingeführt hat – wieder schmerzlich an ihre Grenzen gestoßen?

"Moderne Sklaven oder die Symmetrie von Macht und Wissen: Ein Mythos?" Unter diesem Titel sezierte Stehr, Professor an der Zeppelin University in Friedrichshafen am Bodensee, zunächst einmal Annahmen, die uns, wenn schon nicht lieb, doch zumindest selbstverständlich sind: dass wissenschaftliche Expertisen eine bedeutsame politische Ressource sind; dass ihre Erkenntnisse den meisten Menschen unzugänglich sind; dass die Kluft zwischen diesen und den Experten immer größer wird; und dass diese Entwicklungen die Demokratie belasten.

Stehr setzte diese Annahmen in größere Zusammenhänge und relativierte sie dadurch. Sie seien nicht direkt falsch, Expertenurteile etwa bildeten ja tatsächlich oft das Rückgrat einer Problemanalyse. Ohne sie wüssten die Mächtigen nicht, was sie tun. Aber dass Wissen nicht mit Macht gleichzusetzen sei (wie man seit Francis Bacon anzunehmen bereit ist), zeigte Stehr anhand aktueller Beispiele. Die Empfehlung etwa, Treibhausgase zu reduzieren, müsse im größeren Rahmen gesehen werden; sie hänge unter anderem von der Bereitschaft der Bürger ab, ihre Lebensgewohnheiten zu ändern – etwas, das man in Demokratien unwilligen Mehrheiten nicht oktroyieren kann.

Unsicherer Boden

Der Einfluss wissenschaftlicher Erkenntnisse auf die Politik werde überschätzt, meint Stehr. Doch er ging in seinem Vortrag, der von der ÖAW, dem Medienhaus Wien und der Telekom Austria Group veranstaltet wurde, noch weiter. Ihm zufolge steht das Expertenwissen selber oft auf unsicherem Boden, weil es zu einseitig ist. Auch im aktuellen Fall: "Man hat sich in Japan offenbar entschlossen, die AKWs gegen Erdbeben von bis zu Stärke 8 zu sichern. Das hielt man für vertretbar, hat aber nicht an das Problem gedacht, dass es auch um Nebenwirkungen wie Tsunami, Stromausfall usw. geht. Man muss sich also auch gegen alle Nebenfolgen absichern, und das ist nicht in genügendem Ausmaß geschehen."

Es komme eben darauf an, fügte Stehr im Gespräch hinzu, wie ein Problem gesehen wird und welche Aspekte ausgeklammert werden. Eine Analyse von derartigen "Framings" der Klimadebatte hat ihn zu einem Kritiker der globalen Experten-Empfehlungen werden lassen. Denn die Klimaforscher haben seiner Ansicht nach das Augenmerk der Öffentlichkeit zu sehr auf Maßnahmen gelenkt, die, selbst wenn sie hundertprozentig durchgeführt würden, in den nächsten Jahrzehnten die Erwärmung nicht verhindern werden. Dafür könne man sehr wohl Vorsorge für die bedrohte Bevölkerung treffen und andere Prioritäten aufstellen. Dies allerdings seien politische Maßnahmen, die sich nicht aus den wissenschaftlichen Analysen direkt ergeben.

In dialektischen Zügen stellte Stehr Positionen einander gegenüber, um die Grundannahmen über Politik und Wissen ins Wanken zu bringen. Der Gegensatz zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit ist ihm zufolge eine Konstruktion der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. "Vorher galt ein anderes Verständnis von der Beziehung, nämlich das Bemühen, die Bevölkerung aufzuklären – etwas, das sich von der Französischen Revolution bis ins Wien der 20er-Jahre verfolgen lässt. Es galt, dass Wissen vielschichtige Funktionen hat, dass es Armut beseitigen, Emanzipation ermöglichen kann und vieles mehr."

Ideal der modernen Physik

Heute sei allerdings die Idealvorstellung dessen, was Wissenschaft sein soll, geprägt durch die moderne Physik. "Aus dieser mathematisierten Wissenschaft zog man den Schluss von der Unmöglichkeit, dass die Öffentlichkeit zu solchen hochkomplexen Angelegenheiten einen Zugang finden kann."

Wissen sei nicht unbedingt der Weisheit letzter Schluss, sagt Nico Stehr. "Man muss feststellen, dass es Eigenschaften wie ontologisch sichere Verankerung, Objektivität, Untrüglichkeit einfach nicht hat." Da würden die über Jahrzehnte vernachlässigten Geistes- und Sozialwissenschaften an Bedeutung gewinnen: Ihre Erkenntnisse würden neue Formen der Teilhabe an politischen Entscheidungen aufzeigen – weniger komplex und reduziert, aber dafür unter Einbeziehung von mehr Bürgern. (Michael Freund/DER STANDARD, Printausgabe, 16.03.2011)

=> Wissen: 25 Jahre "Risikogesellschaft"

Wissen: 25 Jahre "Risikogesellschaft"

Der Zeitpunkt der Veröffentlichung hätte nicht besser geplant werden können. Nur wenige Wochen, nachdem der deutsche Soziologe Ulrich Beck 1986 sein Buch Risikogesellschaft veröffentlichte, ereignete sich der Super-GAU von Tschernobyl. Es soll Spaßvögel gegeben haben, die glaubten, dass es sich dabei um eine PR-Aktion des Suhrkamp-Verlags handelte.

Die Koinzidenz mit dem größten anzunehmenden Unfall (im Vorwort zur zweiten Auflage haderte Beck: "Ach, wäre es die Beschwörung einer Zukunft geblieben, die es zu verhindern gilt!"), aber auch die eingängige Sprache machten aus dem grünen Band sowohl einen Bestseller wie auch ein soziologisches Standardwerk.

Während Kollegen wie Nico Stehr in Information und Wissen den Schlüsselbegriff zur Beschreibung zeitgenössischer Gesellschaften sehen, ist es für Beck das Risiko – und zwar sowohl in Form von "naturwissenschaftlichen Schadstoffverteilungen" als auch "sozialen Gefährdungslagen" (wie etwa Arbeitslosigkeit).

Charakteristisch für die "Risikogesellschaft" sei, dass die Risiken meist nicht mehr nach Klassengrenzen verteilt sind, sondern tendenziell jeden betreffen können: "Not ist hierarchisch, Smog ist demokratisch." Vor allem diese These trug Beck auch jede Menge Kritik ein. Wohl auch angesichts der wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich kam Becks "Risikogesellschaft" zuletzt etwas aus der Mode. Zum 25. Geburtstag indes scheint der Begriff so aktuell wie kurz nach Erscheinen. (tasch)