Auffällig ist die Bereitschaft der Bevölkerung, sich (historisch wie aktuell), die undurchsichtigen Entscheidungen der Herrschenden nicht infrage zu stellen. Es gibt keine breite Bewegung, irgendwen in dem dichten Geflecht aus Konzernen, hoher Bürokratie, Politikern und "Bossen" zur Rechenschaft zu ziehen. Wenn etwas dramatisch schiefgeht, verbeugen sich die Chefs tief, entschuldigen sich feierlich - und das war's dann.
Aber auch eine so rigide und traditionelle Gesellschaft wie die Japans unterscheidet sich da in Kernpunkten nicht wirklich von westlichen, viel weniger traditionsgebundenen und sogar "antiautoritären" Gesellschaften. Übrigens: Wer von den Verursachern der Weltfinanzkrise 2007/09 ist ins Gefängnis gegangen?
Die Führungsmannschaft von Lehman Brothers, Auslöser des Finanzcrashs, könnte sogar gänzlich ungeschoren davonkommen, schrieb das Wall Street Journal kürzlich. Die Behörden sind nicht sicher, ob es für eine Anklageerhebung reicht.
Der deutsche Soziologe Ulrich Beck, dessen Standardwerk Die Risikogesellschaft wenige Wochen vor Tschernobyl veröffentlicht wurde, hat das die "Sphäre der organisierten Verantwortungslosigkeit" genannt.
Innerhalb der komplizierten Machtstrukturen sind die Verantwortungslinien so verwirrt und verschachtelt, dass niemandem mehr eine endgültige Verantwortlichkeit zugeordnet werden kann.
Ulrich Beck spricht in einem Interview mit der FAZ im Zusammenhang mit dem Ausbau der Kernenergie von einem "strategisch inszenierten Irrtum. Die Kernenergie hat die Welt zum Labor gemacht, zu einem Experiment mit offenem Ausgang." Der österreichische Philosoph Konrad Paul Liessmann traf in einem Standard-Interview den Punkt: "Kernkraftwerke, nicht nur in Japan, sondern weltweit, funktionieren nur unter der Prämisse, dass diejenigen, die davon den Nutzen und den Gewinn haben, für etwaige katastrophale Folgen nicht einstehen müssen, weil diese Folgen zu groß sind." Das gilt ebenso für die Weltfinanzkrise.
Was antwortet man einem Volksschüler, der angesichts der morgendlichen Katastrophenmeldungen aus Fukushima die Frage stellt, wer das mit der Kernkraft eigentlich so eingerichtet hat? Über die Diktaturen müssen wir hier nicht reden. In den Demokratien war es so, dass vor einigen Jahrzehnten ein paar Fachleute zusammen mit Politikern und Energiekonzernen die Beschlüsse fassten und die jeweiligen Parlamente das absegneten. Man könnte zum Weltverschwörungstheoretiker werden. Aber die allermeisten handelten in gutem Glauben. Oder genauer: Sie wollten die Gefahr einfach nicht glauben. In Österreich entschied das Volk gegen die Kernkraft, nachdem es im Rahmen einer von der Regierung Kreisky initiierten "Aufklärungskampagne" pro Kernkraft zwangsläufig auch die Risiken der Kernenergie näher kennengelernt hatte. Aber das war eben nur das relativ kleine Österreich. (Hans Rauscher, DER STANDARD, Printausgabe, 16.3.2011)