Am Tag, an dem Platzgumers Roman erschien, bebte in Japan die Erde.
Wien - "Japan taumelt in den Kriegszustand", sagt Hans Platzgumer. Anders könne er das Szenario nach dem Beben und der Atomkatastrophe nicht beschreiben. Trotz aller Unterschiede zwischen dem GAU in Tschernobyl (1986) und Fukushima sieht er Parallelen. Am Tag drei nach dem Zwischenfall in Tschernobyl floss das Wasser im Kühlbecken nicht ab, es bestand die Gefahr einer thermonuklearen Explosion.
Freiwillige Taucher wurden gesucht, die sich in das "schwere Wasser" wagten, um ein Ventil in sechs Metern Tiefe zu öffnen - ein Selbstmordkommando. Um brennende Graphitbrocken zurück in den Reaktor zu schaufeln oder die kontaminierte Erde zu vergraben wurden 500.000 Soldaten abkommandiert. "Sie waren nicht über die Gefahren informiert, und sie sind alle gestorben". Platzgumer erinnert daran, dass Kamikaze eine japanische Erfindung sei und Fukushima wohl "Kamikaze-Wissenschaftler" brauche.
Vor fünf Jahren haben Freunde des Tiroler Autors und Musikers einen Dokumentarfilm in der Todeszone bei Tschernobyl gedreht und Platzgumer mit ihren Bildern auf das Thema aufmerksam gemacht.
Geisterschloss
Er begann zu recherchieren bis ihn die Alpträume nachts wachliegen ließen - ganz anders als vor 25 Jahren. Damals interessierte ihn der Super-GAU nicht. Damals war er ein jugendlicher Punk, den es nach New York zog, wo er später mit der Band H.P. Zinker Erfolge im Underground feierte, 1995 wurde sein Album Mountains Of Madness gar für einen Grammy nominiert; aber da war der heute 41-Jährige längst zu andern Ufern aufgebrochen.
Unter anderem begann er zu schreiben - vom Leben in Extremen, von radikaler Einsamkeit, von Entgrenzungen, die an den Rand des Menschseins und in eine vorzivilisatorische Grausamkeit führen. Davon handelt sein jüngster Roman Der Elefantenfuß.
Platzgumer erzählt in alltäglichen Bildern von einer Welt, in der nichts mehr alltäglich ist, in der es keine menschlichen Beziehungen geben kann, weil menschliche Beziehungen auf dem Vertrauen in die Zukunft basieren. Der Schrecken aber, der vom Geisterschloss in den Sümpfen des Ortes Pripjat neben Tschernobyl ausgeht, lässt sich weder mit Gott noch mit Wodka bannen.
"Bauern hatten damals rosa und blau leuchtende radioaktive Klumpen auf ihren Feldern entdeckt: Tennisballgroße Brocken und kleine weiße Blättchen. Feinen Staub, der ihr Land bedeckte, fast wie Schnee", schreibt Platzgumer über jenen 16. April 1986 in Tschernobyl, an dem man das Gift noch sehen und angreifen konnte. Heute liegt es nur unzureichend verschlossen hinter Stahlwänden und meterdickem Beton.
190 Tonnen angereichertes Uran und eine Tonne Plutonium, verschmolzen damals mit Graphit, Bitumen, Sand und den Resten der Brennstäbe zu einer Form, die Wissenschaftler an den Fuß eines Elefanten erinnerte.
Seltsame Gestalten bewegen sich in Platzgumers Roman durch die Pripjat-Sümpfe: Ein junges Paar, ein Jogger, ein Lebensmittelhändler, ein Student und eine Gruppe Soldaten. Wenn sie einander zufällig über den Weg laufen, sind sie irritiert. Der Ort hat ihnen seine radikale Einsamkeit aufgezwungen.
Rund 400 Menschen leben heute in der Todeszone, erzählt Platzgumer. Ein paar Wissenschaftler, einige Rückkehrer wie seine Romanfiguren Igor Kochanow und Alexander Kudrjagin. Wie 200.000 andere wurden sie einst in die hastig aus dem Boden gestampfte Stadt Slawutytsch evakuiert - als ob nicht jeder von ihnen den schleichenden Tod mitgenommen hätte.
Schließlich leben in den Pripjat-Sümpfen noch Flüchtlinge aus Kriegsgebieten, weil gegen die Schrecken des Krieges der Strahlentod noch als kleineres Übel erscheint. Sie reden sich Überlebenstechniken ein: Wie Alexander Kudrjagin, der sich mit einem Bohrer die Schädeldecke öffnet, um die Strahlen abzugeben.
Gottessucher
Diese Behandlung empfiehlt er der eleganten Soraya, die er eines Tages auf der Straße trifft. Sie raucht Zigaretten und ist betäubt von Schmerzmitteln. Philippe hat sie hierher gebracht. Philippe, der ständig von Gott spricht und Soraya grundlos schlägt, der sie bis zur Bewusstlosigkeit betäubt und seiner Wege geht, immer mit dem gleichen Ziel: "Sie kann noch nicht wie ich aufbrechen, um Gottes Willen auszuführen."
Solche religiösen Fundamentalisten zöge es immer wieder zum Elefantenfuß, sagt Platzgumer. Sie stellten eine Verbindung her zwischen dem weißrussischen Wort für Wismut, nämlich Tschernobyl, und dem Engel Wismut aus dem Alten Testament, der die Erde sauer und unbewohnbar werden lässt. (Ingrid Bertel / DER STANDARD, Printausgabe, 17.3.2011)