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Von den Schmerzen umzingelt: Der Alltag von chronischen Schmerzpatienten wird von den Schmerzen bestimmt.

"Lange Irrwege von einem Arzt zum nächsten gehören dazu." "Viele werden als Hypochonder abgestempelt." So klingen die Aussagen vieler Schmerzpatienten. Von akuten Schmerzen ist jeder irgendwann im Leben betroffen, bereits einige Tage damit werden zur Qual und lassen einen Großteil der Gedanken rund um den Schmerz kreisen. Die Situation von Menschen mit chronischen Schmerzen scheint oft zum Verzweifeln: Sie haben Schmerzen - viele davon ein Leben lang.

Tatjana Giannakis wurde vor sechs Jahren an beiden Schultern operiert. Seither hat sie Schmerzen. "Jahre lang bin ich von Arzt zu Arzt gelaufen. Mir wurde gesagt, ich könne keine Schmerzen mehr haben, es sei alles in Ordnung. Von vielen wurde ich sogar als hysterisch abgestempelt", erzählt Giannakis. "Ich war dann schon so weit, dass ich gesagt habe, ich kann nicht mehr, ich hacke mir meinen Arm ab, ich halte diese Schmerzen nicht mehr aus." Durch dieses Schockerlebnis bekam sie eine Fibromyalgie dazu, das sind starke Schmerzen in Muskeln und Sehnen im ganzen Körper. Erst als sie dreieinhalb Jahre später zur Salzburger Schmerzambulanz fand, besserte sich ihre Situation. Die 42-jährige Salzburgerin ist zwar auch jetzt nie schmerzfrei, sie hat aber gelernt mit diesen Schmerzen umzugehen.

Auch für Hermann Lepperdinger veränderte sich das Leben binnen Sekunden. 2004 wurde er bei Holzarbeiten im Wald von einem Baum getroffen. Nach einem langen Krankenhausaufenthalt verbunden mit einigen Operationen und der darauf folgenden Teilnahme an einem Rehabilitations-Programm verbesserte sich seine gesundheitliche Situation. Doch nach und nach kamen die Schmerzen zurück. Seither ist auch er nicht mehr schmerzfrei, sei linkes Bein macht ihm zu schaffen und er kann kaum schmerzfrei sitzen. "Der Vormittag ist für mich die beste Zeit; da bin ich oft schmerzfrei. Gegen Abend wird es immer schlimmer", schildert der 52-Jährige.

Irrwege und Sorgen

Schmerzen werden dann als chronisch bezeichnet, wenn sie länger als drei bis sechs Monate andauern. In Österreich sind chronische Schmerzen mit 1,7 Millionen betroffenen Menschen weit verbreitet. Am häufigsten treten Beschwerden im Bereich des Stütz- und Bewegungsapparates auf, gefolgt von Kopf- und Nervenschmerzen und Schmerzen als Folge von Krebserkrankungen. Laut "Erstem Österreichischen Patientenbericht chronischer Schmerz 2009", der die Anliegen und Bedürfnisse von Patienten eruiert, haben Betroffene neben dem primären Schmerz mit unterschiedlichen Hindernissen zu kämpfen: Die Therapie setzt bei den meisten relativ spät ein, da der Zeitraum von den ersten Symptomen bis zur Diagnose durchschnittlich 2,5 Jahre dauert. Auf der Suche nach Linderung werden viele unterschiedliche Ärzte konsultiert, dennoch sind rund 40 Prozent der Schmerzpatienten laut Bericht mir ihrer Behandlung unzufrieden. Medikamente, die nicht anschlagen, Nebenwirkungen verschreibungspflichtiger Arzneimittel und die ständige Suche nach neuen Behandlungsansätzen, die Linderung versprechen, zugleich aber oft Enttäuschung bringen, führen bei vielen Schmerzpatienten zu psychischen Problemen.

Schwierige soziale Situation

"Nicht die Symptomintensität selbst, sondern der damit verbundene Leidensdruck führt zu Krankenständen, Arbeitsunfähigkeit, sozialem Rückzug und Beziehungsverlusten. Die soziale Situation von Schmerzpatienten ist sehr schwierig", erläutert Michael Bach, Präsident der Österreichischen Schmerzgesellschaft im Patientenbericht die Situation. Hermann Lepperdinger und Tatjana Giannakis können davon ein Lied singen, beide haben die Gründung der Salzburger Selbshilfegruppe "Chronische Schmerzen" mitinitiiert. Giannakis, gelernte Frisörin, kann aufgrund der Schmerzen ihren Beruf nicht mehr ausüben und ist krankheitsbedingt in Pension. "Ich habe Tage, da kann ich nicht einmal ein Milchpackerl aufmachen und bitte meine 83-jährige Nachbarin, mir zu helfen. Ich bin extrem auf andere Personen angewiesen." Hermann Lepperdingers Situation ist ähnlich: Er war selbstständig und hat nach dem Unfall so lange gearbeitet, "bis es überhaupt nicht mehr ging". Der 52-Jährige hat Lähmungserscheinungen und stechende Schmerzen im linken Bein und Dauerschmerzen im Gesäßbereich. Viele Schmerzpatienten teilen diesen Leidensweg: Laut Patientenbericht gaben 43 Prozent der 41- bis 50-jährigen befragten Patienten an, krankheitsbedingt berufsunfähig oder in Frühpension zu sein.

Das Problem bei chronischen Schmerzen ist: Sie sind nicht zu sehen und trotzdem existent. "Für Freunde und Bekannte schaut man gesund aus, was die Situation noch schwieriger begreiflich macht", so Giannakis. "Früher oder später suchen sich viele Schmerzpatienten einen komplett neuen Freundeskreis. Freunde, die einen so kennen lernen, wie man ist und nicht solche, die einen so kennen gelernt haben, wie man einmal war."

Soziale Stressfaktoren wie Geburtstagsfeiern, Hochzeiten und Familientreffen meiden Patienten. Hermann Lepperdinger ist es mittlerweile Leid, anderen seine Situation zu erklären. "Dass chronische Schmerzen eine eigenständige Krankheit sind, begreifen die meisten nicht. Auch nicht, dass die Schmerzen vom Gehirn ausgehen. Aber das begreifen wir selbst teilweise nicht ganz."

Schmerzgedächtnis

"Während ein akuter Schmerz ursprünglich eine Bedeutung hat und den Patienten zum Arzt führen soll um die entsprechende Behandlung einzuleiten, hat der chronische Schmerz seine Warnfunktion verloren. Er ist ein Erlerntes vom Gehirn und hat keine Bedeutung mehr", erklärt Helga Schuckall, Leiterin der Interdisziplinären Schmerzambulanz des Salzburger Landeskrankenhaus. Der chronische Schmerz kann durch unterschiedliche Ursachen ausgelöst werden: Häufig entsteht er postoperativ oder durch insuffiziente Schmerztherapie, er kann aber auch spontan entstehen. Eine Chronifizierung kommt zustande, wenn Schmerzen über eine längere Zeit unbehandelt oder ungenügend behandelt bleiben. Wenn immer wieder starke Schmerzreize die Nervenfasern durchlaufen, können sich diese dauerhaft verändern. Im Gehirn, wo die eigentliche Schmerzverarbeitung stattfindet und der Schmerz bewusst wahrgenommen wird, wird das Schmerzereignis als Erfahrung gespeichert. Bereits leichte Reize oder sogar der Gedanke an etwas Unangenehmes reichen dann bereits aus, um als Schmerzimpuls registriert und schmerzhaft empfunden zu werden. Das Nervensystem "erinnert" sich an den Schmerz und bildet ein Schmerzgedächtnis. Aus dem akuten körperlichen Warnsignal entwickelt sich eine eigenständige Krankheit.

Multikausaler Teufelskreis

Chronische Schmerzen sind multikausal, das heißt, sie haben im Gegensatz zu akuten immer mehrere Ursachen. Sie sind oft Ausdruck eines schon länger bestehenden und tiefer sitzenden Ungleichgewichts und gehen häufig mit psychischen Erkrankungen wie etwa Depressionen Hand in Hand. Was zu Beginn war, der Schmerz oder die Depression, lässt sich oft nicht mehr genau feststellen. Schmerz und psychische Verstimmung schaukeln sich gegenseitig auf, ein Teufelskreis entsteht: Der Schmerz geht mit der Angst vor Verschlechterung oder des Wiederauftretens einher. Vermeintlich schmerzauslösende Bewegungen werden gemieden, das Schonungsverhalten schwächt die Muskulatur und mindert das körperliche Wohlbefinden. Arbeit und Hobbies können nicht mehr ausgeübt werden, finanzielle Sorgen und soziale Konflikte sind oft die Folge. Stress und Sorgen drücken auf die Stimmung und gleichzeitig auf die Schmerzen.

"Wie bei jedem Krankheitsbild können sich die Schmerzen durch Arbeitsbelastung, Burnout, durch familiäre Krisen, Belastungssyndrome und finanzielle Probleme verstärken", erklärt die Schmerzmedizinerin. Daher werden Patienten an den Schmerzambulanzen zusätzlich zu ihrer medikamentösen Behandlung auch psychologisch begleitet. "Die psychologische Betreuung ist das Um und Auf - teilweise sogar wichtiger als die medikamentöse Behandlung. Wenn man immer Schmerzen hat, muss sich das psychisch auswirken. Das hält ja niemand aus", weiß Hermann Lepperdinger aus Erfahrung.

Therapieerfolg ist auch Kopfsache

Nachdem der chronische Schmerz viele Einflussfaktoren hat, gestaltet sich die Therapie ebenfalls multimodal: Neben der medikamentösen Behandlung sind Maßnahmen zur Stärkung der Muskeln und des gesamten Körpers wichtig. Sport, Bewegungs- und Physiotherapie können zu einem besseren Körpergefühl beitragen. Zudem ist an den österreichischen Schmerzambulanzen, die es in den größeren Städten gibt, die psychologische Betreuung ein Muss. Der optimale Therapieerfolg entsteht durch eine individuelle, auf das persönliche Krankheitsbild des Patienten abgestimmte, Behandlungskombination, denn jedem Patienten tun andere Verfahren gut.

Da sich bei chronischen Schmerzpatienten der Großteil im Gehirn abspielt, stellt sich die Behandlung dennoch schwierig dar. "Man versucht die Symptome zu mildern, muss aber auch das Gehirn austricksen, um das Schmerzgedächtnis auszulöschen", so Schuckall. Dies würde primär mit passenden Medikamenten versucht, aber auch mit komplementären Methoden wie Akupunktur, mit Naturheilverfahren oder Schmerzbewältigungsstrategien wie Autogenem Training oder Hypnose. "Der Patient soll dahingehen geschult werden, sich den Schmerz ein bisschen wegzudenken. Das funktioniert langfristig ziemlich gut", so die Medizinerin. Patienten lernen ihren Körper und den Verlauf der Schmerzen mit der Zeit immer besser kennen und wissen, was sich günstig auswirkt und auf was sie verzichten sollen. "Ich habe gelernt auf die Signale meines Körpers zu hören, merke mittlerweile, wann sich ein Schmerz-Schub ankündigt und kann ihn noch abfedern", erklärt Giannakis. Hermann Lepperdinger hat ebenfalls bereits viele Therapieversuche hinter sich: Operationen, Nervenblockaden und ein implantierter Schmerzschrittmacher zeigten aber keine Wirkung. Der Salzburger hat gelernt, sein Leben mit Schmerzen zu meistern.

Kostenfaktor chronischer Schmerz

Häufige Arztbesuche und -wechsel, lange Krankenstände, die Einnahme von Medikamenten, Reha, Berufsunfähigkeit und Frühpensionen belasten nicht nur die Betroffenen selbst massiv, sondern auch das Gesundheitssystem. Walter Fiala von der Österreichischen Gesellschaft für Allgemeinmedizin spricht sich deshalb im Patientenbericht für eine Intensivierung der Allgemeinmedizinischen Ausbildung aus, denn nur wenn akute Schmerzen in der Allgemeinpraxis rasch diagnostiziert und effizient therapiert würden, könne die große Zahl an chronischer Schmerzzustände verringert werden. Der Faktor Zeit spielt bei Untersuchung und korrekter Diagnosestellung eine wesentliche Rolle. "Der Schmerzpatient ist genervt. Er spürt über Jahre hinweg starke bis stärkste Schmerzen, muss trotzdem seinen Alltag meistern und viele Ärzte, manchmal auch aus Zeitmangel heraus, finden keine Ursache. Damit fühlt sich der Patient alleine gelassen", erklärt Schuckall die Situation vieler Patienten.

Das Arzt-Patienten-Gespräch stehe an den Schmerzambulanzen deshalb an vorderster Stelle. Dort wird pro Patient relativ viel Zeit aufgewendet, was letztendlich auch der Volkswirtschaft zu Gute kommt. "Laut Schätzungen für Österreich geht man von indirekten Kosten in Höhe von 4,5 Milliarden Euro jährlich aus. Durch eine effiziente Therapie könnte dieser Betrag halbiert werden", so die Schmerzmedizinerin. Die Kosteneinsparungen sind freilich nur ein positiver Nebeneffekt, worum es wirklich geht, ist Menschen ein Leben mit chronischen Schmerzen zu ersparen. (Ursula Schersch, derStandard.at, 23.03.2011)