Schilowzew ist seit seinem Einsatz in Tschernobyl Invalide.

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Pawlenko - Langsam knickt Wladimir Schilowzew einen Finger um. Leskow. Ein weiterer Finger folgt. Orel, Suprun, Kobez. Am Ende seiner Aufzählung blickt der 53-Jährige stumm auf zwei geballte Fäuste hinab. Zehn seiner engsten Kollegen sind in den vergangenen 25 Jahren an den Folgen der Atomkatastrophe in Tschernobyl gestorben.

Der damals 29-Jährige war unter den Ersten, die am 26. April 1986 ins Unglücksgebiet gerufen wurden. „Es war ein Samstagabend und wir waren zu Besuch bei Freunden, als der Alarm ausgelöst wurde", erzählt Schilowzew, der als Ausbildungsoffizier in einer Kiewer Polizeischule diente, vom Unglückstag. Der Oberleutnant stand zwar nicht auf der Einsatzliste, meldete sich jedoch freiwillig. Als Einsatzgrund wurde ein Feuer im Atomkraftwerk von Tschernobyl genannt.

„Wir haben schon verstanden, dass etwas Größeres passiert sein muss, wenn man so viele Leute zusammenzieht", sagt Schilowzew. Aber worauf er sich tatsächlich einließ, ahnte Schilowzew nicht. Um 22:30 am Tag des Unfalls fuhren die Autobusse mit 300 Milizionären der Polizeischule aus Kiew ab. Nach fast sechs Stunden Fahrzeit erreichen die Polizeischüler und ihre Ausbildner den Fluss Prypjat, der vier Kilometer vom havarierten Kraftwerk entfernt liegt.

„Wir haben keinen Befehl bekommen, was wir weiter tun sollten. Es gab überhaupt keine Information", sagt Schilowzew. Alles ist friedlich. Die Sonne scheint, der Himmel ist ungetrübt blau und die Vögel zwitschern. Es war ein herrlicher Frühlingstag, erinnert sich Schilowzew. Die jungen Männer sitzen am Waldesrand im Gras, essen belegte Brote, die ihnen von ihren Frauen oder Müttern mitgegeben wurden, und spielen Fußball. Unterbrochen wird die Idylle nur durchs Knattern der Hubschrauberrotoren.

Ihre Unterkunft beziehen die Polizisten in einer nahe gelegenen Scheune für landwirtschaftliches Gerät. Um ihre Verpflegung kümmern sie sich in den ersten Tagen selbst. Die Kommandanten sammeln Geld und fahren in die Stadt Tschernobyl, um Essen zu kaufen. Bei einer dieser Fahrten e Schilowzew in einer kleinen Buchhandlung zwei Goethe-Sammelbände, die für ihn noch immer einen ganz besonderen Stellenwert haben.

Im Laufe des 27. April erhalten Schilowzew und seine Männer schließlich weitere Anweisungen: Ihre Hauptaufgabe ist es, die Bewohner von Prypjat zu evakuieren. „Wir sind von Wohnung zu Wohnung gegangen und haben ihnen gesagt, in 18 Stunden steht ein Bus bereit. Nehmt alles wichtige für 3 bis 4 Tage mit", erzählt Schilowzew. Keiner hätte damals geahnt, dass es ein Abschied für immer ist.

„Das war keine Lüge oder Irreführung der Bevölkerung. Es hat damals wirklich niemand verstanden, welche Ausmaße und Folgen diese Katastrophe haben wird", ist der ehemalige Polizist, der bis vor kurzem in einer österreichischen Bank in Kiew gearbeitet hat, überzeugt. Prypjat, eine moderne Stadt mit guter Infrastruktur und vielen Grünflächen, habe sich damals innerhalb weniger Stunden in eine Geisterstadt verwandelt.

Nach den ersten Einsätzen in Prypjat stellt sich bei Schilowzew ein komisches Gefühl ein: eine innerliche Kälte, gleichzeitig aber brennt die Haut wie nach einem Sonnenbrand. Am zweiten Tag fühlen sich viele Polizisten schwach und schaffen es kaum noch aus dem Autobus. Manche bekommen Nasenbluten. Die Angst beginnt umzugehen.

Nach vier Tagen im Katastrophengebiet werden die Polizeischüler abgezogen und durch ältere Beamte ersetzt. Bevor sie die Sperrzone verlassen werden sie in einem Zelt mit Desinfektionsmitteln besprüht. Am Ausgang kontrolliert ein Beamter die Strahlung. „Manche mussten die Desinfektionsprozedur zehn Mal durchlaufen. Das Messgerät zeigte so viel an, dass die Skala dafür gar nicht ausreichte", erinnert sich Schilowzew.

Die Folgen des Super-GAUs haben die Leben des jungen Polizisten bestimmt. Schilowzew gilt als Invalide, er leidet an zahlreichen chronischen Krankheiten und hat mehrere Krankenhausaufenthalte hinter sich. Arthrose macht jede Bewegung zur Qual. Eigentlich hätte der Bankangestellte als Tschernobylgeschädigter schon mit 50 Jahren in Pension gehen können.

Theoretisch. Denn Schilowzew gibt im Minimum 300 bis 400 Hrywnia (26 bis 35 Euro) im Monat für Medikamente aus. Die Pension würde 1000 bis 1500 Hrywnia (89 bis 133 Euro) betragen. „Mit den Leuten, die in Tschernobyl waren, beschäftigt sich heute niemand. Weder der Staat noch die Gesellschaft. Es scheint als wären sie die Quelle das Problems, das man loswerden muss", sagt Schilowzew verbittert. Die Katastrophe von Tschernobyl habe nicht vor 25 Jahren aufgehört. Sie setzt sich bis heute fort. (Verena Diethelm aus Kiew/DER STANDARD, Printausgabe, 19./20. März 2011)