Jochen Hippler ist Dozent am Institut für Entwicklung und Frieden an der Universität Duisburg. Sein besonderes Forschungsinteresse liegt auf politischen Umbrüchen im Nord-Süd-Kontext und im Nahen und Mittleren Osten, bzw. im islamisch geprägten Kulturraum.

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Der deutsche Friedensforscher Jochen Hippler hält die multinationale Intervention in Libyen für ein denkbar ungeeignetes Mittel, die Zivilbevölkerung vor der Gewalt der Gaddafi-Truppen zu schützen. Es sei ein Fehler gewesen, trotz der unübersichtlichen politischen Situation in Libyen einzugreifen. Sollte es so weit kommen, dass Bodentruppen in das Land geschickt werden, könnten sich die unterschiedlichen Interessensgruppen plötzlich geschlossen gegen die ausländischen Truppen stellen. Ein derStandard.at-Interview.

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derStandard.at: Russlands Regierungschef Putin hält die multinationale Militärintervention für einen "Kreuzzug des Westens", Sarkozy für eine "notwendige Maßnahme". Was sagen Sie?

Hippler: Beide Standpunkt sind überzogen und absurd. Es stellen sich meiner Meinung nach zwei Fragen. Erstens geht es um die rechtliche Grundlage: Basiert die tatsächliche Intervention auf der Resolution 1973 oder geht sie darüber hinaus (Schutz der Zivilbevölkerung, Anm)? Derzeit werden viele Ziele angegriffen, die für den Schutz der Zivilbevölkerung unerheblich sind.

Zweitens stellt sich die Frage, ob die politischen Ziele - sowohl die legalen als auch die darüber hinausgehenden - durch Luftangriffe überhaupt erreicht werden können. Ich bin skeptisch, dass die Zivilbevölkerung von der Luft aus geschützt werden kann. Denken Sie beispielsweise an Srebrenica. Dieses Massaker, bei dem 8000 Menschen ermordet wurden, passierte in einer Flugverbotszone. Auch das "illegale" Ziel Gaddafi zu stürzen kann meiner Meinung nach aus der Luft nicht erreicht werden.

derStandard.at: Wie hat die Militärintervention den realen Konflikt zwischen Gaddafi und den Aufständischen verändert?

Hippler: In Libyen gibt es ja nicht nur zwei Konfliktseiten, Gaddafi auf der einen und die Opposition auf der anderen Seite. Vielmehr existiert in Libyen eine Situation des Chaos. Wir haben derzeit zwei getrennte Bürgerkriege: einen im Osten, einen im Westen. Und im Moment ist der Süden dabei, auf Seiten Gaddafis in diesen Konflikt einzutreten. Und zwar nicht, weil man Gaddafi unterstützen möchte, sondern weil man die Spaltung des Landes verhindern möchte. Das Öl liegt im Osten und sollte der wegfallen, hat der Rest des Landes nur mehr 20 Prozent des Öls.

derStandard.at: Welche Interessensparteien sind außerdem beteiligt?

Hippler: Vereinfacht gesagt: Wir haben prodemokratische Kräfte, aber auch Sezessionisten, denen Gaddafi nicht wichtig ist, solange der Osten unabhängig wird. Dann haben wir noch die Stämme, Mafiaorganisationen, die das gegenwärtige Chaos ausnützen und religiös-extremistische Organisationen, die ihr eigenes Süppchen kochen wollen. Jede dieser Strömungen ist für sich noch einmal mehr oder weniger stark unterteilt. Manche Gaddafi-Feinde kämpfen im Moment gegen Aufständische, weil sie gegen eine Spaltung des Landes sind. In so einer konfusen und chaotischen Situation scheinen mir die Luftangriffe keine allzu gute Idee zu sein.

derStandard.at: Welche Position bezieht in diesem Chaos der libysche Nationalrat (politisches Gremium der Aufständischen in Bengasi, von Frankreich als Vertretung Libyens anerkannt, Anm)?

Hippler: Der Nationalrat ist einer der wenigen Organisationen, die eine Luftintervention gefordert haben. Ich habe den Eindruck, dass er auf die Unabhängigkeit des Ostens setzt.

derStandard.at: Wie geht Gaddafi mit dieser unübersichtlichen Situation um?

Hippler: Gaddafi ist in seinen Äußerungen exzentrisch und großmäulig, aber in Libyen ist er ein brillianter Machttaktiker. Es hat es schon in den letzten Jahrzehnten hervorragend geschafft, verschiedenen Gruppen gegeneinander auszuspielen. In dieser Hinsicht muss man sagen, dass ihm die Militärintervention in die Hände spielt. Mein Eindruck ist, dass gerade im Westen und im Süden des Landes Gaddafis Glaubwürdigkeit gestiegen ist. Er versucht permanent durch materielle Anreize, Einschüchterung und seine verwandschaftliche Beziehungen die unterschiedlichen Stämme hinter sich zu bringen. Er nutzt die Angst vieler Libyer vor einer Unabhängigkeit des Ostens. Ich glaube, dass er durch Fehler seiner Gegner im In- und Ausland gerade Zeit gewinnt, auch wenn ich davon ausgehe, dass die große Mehrheit der Libyer Gaddafi hasst.

derStandard.at: Wie lange wird die Militärintervention noch dauern? Tage, Monate?

Hippler: Die Überlegenheit der angreifenden Länder ist so groß, dass Libyen keine Chance hat, sich militärisch zu verteidigen. Die multinationalen Angreifer werden alles zerstören, was sie zerstören möchten. Das Problem wie gesagt: das eigentliche Ziel - nämlich der Schutz der Zivilbevölkerung - wird dadurch nicht erreicht werden können. Dann haben die Verantwortlichen die Wahl: Entweder sie gestehen ihr Scheitern öffentlich ein, oder sie müssen gegen ihren eigenen Willen doch noch Bodentruppen schicken. Dann haben sie ein riesiges Problem. Denn selbst im Osten, aber vor allem im Westen und im Süden werden die Menschen zuerst gegen die ausländischen Invasoren kämpfen, bevor sie sich weiter gegen Gaddafi wehren.

derStandard.at: An welchem Punkt könnte man vorzeitig wieder aussteigen? Nach der Erreichung der militärischen Ziele?

Hippler: Die französische, die britische oder die US-amerikanische Regierung kann schlecht sagen: wir haben jetzt alles zerstört, was militärisch zu zerstören war, unsere Ziele sind zwar nicht erreicht, aber wir ziehen wieder ab. 

derStandard.at: Das heißt, ein Wandel in Richtung demokratische Strukturen ist in weiter Ferne.

Hippler: Die Tendenz zu einem längerfristigen Bürgerkrieg ist durch die Intervention stärker geworden. Vorher hätte man noch darüber nachdenken können, Dialogprozesse zwischen den verschiedenen Gruppen anzustoßen. Jetzt, wo ein Teil der Opposition fremde Truppen ins Land eingeladen hat, wird eine solche Verständigung natürlich viel, viel schwieriger. Die Entschlossenheit der Aufständischen im Osten ist durch die vermeintliche Unterstützung der ausländischen Mächte gestiegen.

derStandard.at: Welche Motive stehen tatsächlich hinter dem Start der Militärintervention?

Hippler: Unterschiedliche Gründe, aber hauptsächlich innenpolitische. Vor allem Sarkozy ist ja lange dafür in der Kritik gestanden, dass er mit jedem noch so widerlichem Diktator Geschäfte machen wollte und hier nun gegensteuert. Was Washington betrifft: Mir scheint es starken politischen Druck aus einem Teil der republikanischen Rechten - erstaunlicherweise ohne die Tea Party-Leute - zu geben, hier militärisch einzugreifen. Außenpolitisch braucht man diese Intervention nicht: Das libysche Öl steht zum Verkauf, die Öl- und Gaslieferungen sind stabil. Libyen hat gute Geschäftsbeziehungen zu EU-Ländern. Gaddafi hat die Flüchtlinge aus Afrika von der EU abgeschirmt. Warum sollte man den stürzen? (Manuela Honsig-Erlenburg, 22.3.2011, derStandard.at)