"Nach neuen Sauerstoffquellen umsehen": Markus Spillmann, Chefredakteur der NZZ. Die betreibt nun ein "Lab" für digitale Medien.

 

 

Foto: NZZ

STANDARD: Der Relaunch der NZZ vor eineinhalb Jahren galt als ein kleiner Kulturschock - wieviele Leute haben ihr Abo abbestellt, wieviele Protestschreiben, wieviele Anrufe hatten Sie?

Spillmann: Der Relaunch insgesamt ist gut aufgenommen worden. Ich war selber sehr überrascht, wie geräuschlos das ganze über die Bühne gegangen ist. Das heißt nicht, dass es keine Reaktionen gab - aber wir hatten mit mehr gerechnet. Grob gesprochen kann man die Reaktionen dritteln: Zwei Drittel waren positiv, davon ein Drittel mit Anregungen, was noch zu verbessern wäre. Ein Drittel hat Mühe bekundet, sich wieder zurechtzufinden. Relaunches haben an sich, dass sie ein bisschen Zeit brauchen. Leserinnen und Leser müssen sich an ein neues Format gewöhnen, ihre Dinge wiederfinden. Ich glaube, es ist uns gelungen zu beweisen, dass wir letztlich an der Substanz zwar Veränderungen vorgenommen haben, aber versucht haben, die alteingesessenen Leser nicht vor den Kopf zu stoßen. Ich glaube, das ist uns recht gut gelungen.

STANDARD: Konnten Sie mit dem Relaunch den allgemein feststellbaren Leserschwund bremsen, stoppen, den Trend umkehren?

Spillmann: Nein. Wir hatten im Jahr nach dem Relaunch zunächst sehr erfreuliche Zahlen. Für dieses Jahr sieht es leider weniger erfreulich aus, wobei man sehr vorsichtig sein muss, einzelne Jahre isoliert zu betrachten. Entscheidend sind die längerfristigen Entwicklungen. Die Leserschafts-Reichweite "hinkt" immer etwas der Auflagenentwicklung hinterher; diese wiederum ist weiter unter Druck. Wir verlieren unterdurchschnittlich im Vergleich zum Markt in der Schweiz, aber wir verlieren wenige Prozentpunkte pro Jahr. Das ist aber unabhängig von Maßnahmen wie Relaunch oder Preisaufschlägen seit Jahren festzustellen.

Ich habe aber von Anfang an gesagt: Ich lasse mich gerne messen am Erfolg auch in der Reichweite, unabhängig vom Relaunch. Ich glaube nicht, dass es sinnvoll ist oder eine nachhaltige Strategie, wenn man Relaunches inhaltlicher oder gestalterischer Art so direkt mit Wachstum verbindet. Das funktioniert so nicht. Ich kenne keine wirklich überzeugenden Fälle, wo das über die Zeit gelungen wäre.

STANDARD: Blöde Frage: Warum haben Sie dann einen Relaunch gemacht?

Spillmann: Blöde Frage ist das nicht: Die NZZ hat den letzten fundamentaleren Eingriff vor 60 Jahren durchgeführt. Damals haben wir die Frakturschrift auf eine Attika gewechselt. Das ist schon sehr lange. Als ich vor fünf Jahren ins Amt gekommen bin, habe ich kleinere Retuschen vorgenommen. Es war die Zeit reif. Es war aber auch aus der ökonomischen Situation heraus der Druck größer. Die Inseratenflächen, die uns in den Krisenjahren 2008/9 weggebrochen sind, machten die ganze Bund-Architektur, also die Gliederung in Zeitungsteile, relativ schwierig. Das alles zusammen und inhaltliche Veränderungen, die wir durchführen wollten, haben dazu geführt, dass wir gesagt haben: Jetzt packen wir's richtig an und begeben uns in diesen Prozess. Das Projekt ist über Jahre gereift, und im Herbst 2009 war es soweit. Aber wir mussten das nicht tun, um dieses oder dieses Ziel zu erreichen.

STANDARD: Vorgeworfen wurde Ihnen: Mehr Farbe, mehr Bilder, weniger Text, eine Sparmaßnahme.

Spillmann: Den Vorwurf bekommt man immer wieder zu hören. Der ist auch nicht neu bei uns. Die alteingesessenen Leser vergessen natürlich nicht, dass es die NZZ auch in Zeiten gab, wo's gar keine Farbe gab. Wo man auf zwei Seiten nur Textspalten lesen konnte. Tatsache ist aber, dass wir das Textvolumen per se nicht so dermaßen dramatisch reduziert haben. Ich habe das vor allem über die Seitenanzahl kompensiert. Wir produzieren gleich viele Seiten wie wir zur Hochblüte der NZZ, die Supplements rausgerechnet, produziert haben. Die Texte sind in der Tat tendenziell etwas kürzer. Das ist aber auch bewusst abgetestet worden.

Wir wissen, dass viele Leserinnen und Leser auch in einer NZZ erwarten, dass sie ein bisschen knapper, kompakter informiert werden. Wir versuchen, das so zu steuern: Wir haben kürzere, nachrichtliche Texte und weiterhin den Mut zu großen Lesestücken. Gerade im Feuilleton, wo wir bewusst sehr lange, sehr schwere Texte produzieren. Bewusst, weil wir uns nicht diesem generellen Markttrend unterziehen wollen, der davon ausgeht, dass nur noch kurze Texte konsumiert werden. Das glaube ich auch nicht.

Vielleicht noch ein Wort zu den Bildern: Die NZZ hat eine sehr hohe Tradition in der klassischen, journalistischen Bildkompetenz. Große Fotografen des 20. Jahrhunderts waren bei der NZZ angestellt. Ich sehe diesen Schritt auch als eine Rückkehr zu alten Tugenden. Für mich ist ein qualitativ hochwertiges Bild - oder eine gut erklärende Grafik - ein integraler Teil einer Qualitätspublizistik. Da mache ich keinen Unterschied.

STANDARD: Sie kürzen auch bei den Textlieferanten: Es gab Sparmaßnahmen am Korrespondentennetz der NZZ, an den Honoraren im Feuilleton... Viele Berichte klangen nach Sparmeister Spillmann.

Spillmann: Das ist ein Teil meines Salärs. Ich beklage mich nicht: Ich habe eine Führungsposition, und in einer Führungsposition muss man in schwierigen Zeiten auch schwierige Entscheidungen fällen. Tatsache ist: Wir haben 2008/9 die schwerste Krise seit sehr, sehr vielen Jahrzehnten erlebt. Im klassischen Geschäft sind uns Inseratenerträge im hohen zweistelligen Millionenbetrag innert kurzer Zeit weggebrochen. Da können Sie nicht so tun, als hätte sich nichts verändert. Ich gestehe ein, dass wir in Personalentscheidungen Wege gewählt haben, die kurzfristig nicht die Qualität per se mindern, aber den Erfahrungsschatz der Redaktion: Ich habe versucht, Kollegen in Frühpension zu schicken, die noch ein, zwei Jahre hätten arbeiten können. Das ist die eine Seite der Medaille.

Damit verbunden war aber letztlich, dass wir relativ wenige Leute wirklich entlassen mussten. Wir haben die Substanz insgesamt kurzfristig vielleicht ein bisschen verringern müssen, haben aber dadurch mittel- und langfristig sicher eine gute Basis, um auf dem aufbauend auch unseren Ansprüchen im Qualitätsjournalismus gerecht zu werden. Wir können Leute ausbilden für die Zukunft. Solche Einschnitte müssen zudem immer über die Zeit betrachtet werden, und sicher wird es im einen oder anderen Fall zu Korrekturen kommen. Das ist völlig klar.

STANDARD: Sehen Sie wirtschaftlich Licht am Ende des Tunnels, bessert sich die Lage?

Spillmann: Ja, in der Tat, wenn Sie auf unsere vor kurzem publizierten Ergebnisse schauen. Wir haben zurückgefunden zu einer substanziell positiven Ertragslage, sowohl in der Zeitung selbst als auch auf Unternehmensstufe. Als realistischer Optimist sage ich aber auch: Das heißt aber nicht, dass wir zurück zum Business as usual können. Wir haben bessere Werte als noch vor einem Jahr. Aber die verdanken wir Maßnahmen auf der Kostenseite, weniger den Erträgen.

Der Ertrag steigt wieder leicht, aber auf sehr tiefem Niveau. Unabhängig von der konjunkturellen Entwicklung bleibt das grundlegende Problem: Das Geschäftsmodell der Tageszeitung in ihrer klassischen Form erodiert oder steht zumindest stark unter Druck. Wir, die Zeitungsbranche, haben jetzt vielleicht ein bisschen Luft bekommen. Aber wir sollten uns davor hüten, uns entspannt zurückzulehnen und diese Atemluft zu verbrauchen , ohne uns nach neuen Sauerstoffquellen umzusehen.

STANDARD: Wirtschaftlich wird es also nie wieder, wie es einmal war. Was bedeutet das für den Qualitätsjournalismus in den nächsten fünf, zehn Jahren? Der Herausgeber der New York Times dachte schon laut über ein Ende der gedruckten Ausgabe nach. Werden wir alleine für iPads und andere mobilen Geräte arbeiten?

Spillmann: Ich will mich auf keine Debatte über ein Datum einlassen. Ich bin 43, muss also nach Schweizer Sozialversicherungswesen noch mindestens 22 Jahre arbeiten. Ich würde das gerne als Journalist tun, auch wenn ich mir andere Funktionen vorstellen kann. Unsere Generation wird damit umgehen müssen, dass sie als Journalist - und übrigens auch als Verlagsmitarbeiter - eine grössere Flexibilität an den Tag legen muss als je zuvor, für welches Medium bzw. welche Angebotsform man in einem Berufsleben arbeitet.

Die Essenz, die Qualität, das inhaltliche journalistische Handwerk, daran wird sich in den nächsten Jahren nicht soviel ändern. Was sich verändert, sind die Angebotsformen. Da stehen wir erst am Anfang. Die Kunst wird für unsere und die nachfolgenden Generationen sein, sich dem mit einem realistischen Optimismus zu stellen. Ich halte nichts davon zu mauern. Ich halte aber auch nichts davon, die Zeitung vorschnell totzureden. Die Zeitung ist immer noch und wird auf absehbare Zeit der Haupteinnahmepfeiler jedes einigermaßen vernünftig aufgestellten Verlagshauses in Europa. Ich kenne jedenfalls keinen Fall, in dem eine Onlinestrategie schon derart substanzielle Erträge erwirtschaftet, um die Qualität des Publizistischen zu refinanzieren, das jetzt vor allem in Print stattfindet.

STANDARD: Also: Professionellen Journalismus wird es weiter geben und brauchen - unabhängig von der Medienplattform?

Spillmann: Da haben große Marken, starke Marken eine gute Position - dazu zähle ich die NZZ unbescheiden. Wir müssen die Marke NZZ nicht neu denken, aber sehr wohl weiterentwickeln. Kundinnen und Kunden, Leserinnen und Lesern müssen unter dem Label NZZ die Form von Qualität wiederfinden, die sie mit dieser Marke verbinden - wo immer sie eintreten wollen, was immer sie nutzen wollen. Aber wir können den Kunden nicht mehr befehlen, wie sie unsere Leistung beziehen wollen. Der Kunde wählt gezielt, bewusst, sehr rational. Und wenn die Mehrheit der Kundinnen und Kunden andere Formen möchten, aber trotzdem NZZ-Qualität, dann müssen wir gefälligst fähig werden, diese Qualität auf andere Formaten anzubieten.

STANDARD: Glauben Sie an bezahlte Inhalte im Internet?

Spillmann: Wir überlegen uns das ernsthaft. Ich gehe davon aus, dass wir das einführen werden. Ich bin unsicher, ob sich das Modell Print so einfach übertragen lässt. Wenn Sie auf Reichweite abzielen, sind solche Modelle schwierig. Wenn Sie sich auf ein Segment konzentrieren wie etwa das Wall Street Journal, dann glaube ich an solche Modelle auch im digitalen Raum. Aber auch hier wird Trial and Error das Prinzip sein. Wir müssen es einfach einmal versuchen. Und uns nicht zu stark in eine Strategie verbeißen. Wir brauchen die Flexibilität zu sagen: Okay, funktioniert nicht, dann müssen wir uns etwas anderes suchen. Das Grundproblem müssen wir in den Griff bekommen. Wir brauchen substanzielle Erträge, sonst können wir diese Qualität nicht finanzieren.

STANDARD: Wie definieren Sie Qualitätsjournalismus?

Spillmann: Ich glaube schon, dass man Qualität definieren kann. Die Frage ist, ob man es definieren will. Qualität ist immer geprägt von einer Kultur. Der STANDARD hat bestimmt eine sehr ausgeprägte Redaktionskultur, in der ähnliche Qualitätskriterien gelten, wie wir sie bei der NZZ formulieren würden. Aber es gibt vielleicht noch Sonderausprägungen. Für mich ist Qualität letztlich schon journalistisches Handwerk, das nicht kopierbar ist. Das beginnt mit der Prüfung von Quellen; nur das zu schreiben, was man wirklich weiß oder wovon man wirklich sicher ist; dass man in der Regel mehr wissen sollte, als man schreibt, also die inhaltliche Kompetenz vorhanden ist; dass man sich um größtmögliche Transparenz bemüht; dass man ausgewogen bleibt, ohne deswegen Neutralitätsgedanken zu pflegen.

Das sind alles Begriffe, die man einfordern kann. Da haben wir ein Set von Regeln. Das Spannende ist, dass da eine neue Welt entsteht, wo sich diese Regeln nicht mehr so einfach anwenden lassen. Das ist mit eine der großen Herausforderungen.

STANDARD: Zugleich stehen Medien wie Zeitungen im Wettbewerb mit dieser neuen Welt.

Spillmann: Oder sie müssen unter der gleichen Marke ganz andere Qualitätskriterien einhalten, weil sie sonst nicht marktfähig sind. Einen Onlinekommentar können sie nicht gleich behandeln, wie einen, den sie in 24-Stunden-Rhythmen drucken. Das müssen wir in den Griff bekommen.

STANDARD: Die NZZ gilt - in ihrer Inlandsberichterstattung - geradezu als Parteiorgan der Freisinnigen Partei.

Spillmann: Wir sind nicht das Parteiorgan der FDP in der Schweiz, das würde auch die FDP nicht so sehen, im Gegenteil. Wir haben wahrscheinlich mit dieser Partei die meisten inhaltlichen Streitigkeiten. Die NZZ gibt es auch länger als die Freisinnig-Demokratische Partei in der Schweiz. Wir wurden 1780 ins Leben gerufen, die FDP ist ein Kind des 19. Jahrhunderts. Was wir aber inhaltlich, von unserer Werthaltung her teilen, ist das Vertrauen in die Freiheit des Einzelnen, in die individuelle Verantwortung, in die Freiheit des Marktes.

Und wir haben einen statutarischen Auftrag. Den geben uns unsere Aktionärinnen und Aktionäre. An den fühle ich mich gebunden. Das heißt: Die NZZ ist keine Forumszeitung, wir sind ein Meinungsorgan liberal-bürgerlicher Ausprägung. Solange die Aktionärinnen und Aktionäre daran festhalten, gilt das. Wenn sich das ändern sollte, dann müsste man die Statuten ändern.

STANDARD: Ihr Wien-Korrespondent sagte sinngemäß auf einem Podium: Information und Meinung zu trennen, ist eine Illusion.

Spillmann: Das ist nicht ganz falsch. Im angelsächsischen Journalismus wird diese Trennung sehr scharf gezogen. Im kontinentaleuropäischen, vor allem deutsch geprägten Raum ist diese Trennung so scharf nie gezogen worden. Es gibt bei uns handwerkliche Entwicklungen, wo wir sagen, wir müssen wieder schärfer trennen. Der Leser muss schneller entscheiden können: Will ich jetzt einen nachrichtlichen Artikel lesen oder einen Kommentar. Vom Grundsatz her ist es aber nicht falsch, dass wir sagen: Der Korrespondent, der Fachredakteur ist die NZZ. Das gehört auch zu diesem liberalen Duktus: Wir übertragen dem einzelnen Mitarbeiter sehr viel Verantwortung für das Inhaltliche.

Innerhalb dieser Leitplanken, die etwa das Statut definiert, ist er oder sie verantwortlich für die Betreuung eines Gebietes. Da haben sich diese Mischformen nicht so schlecht bewährt. Was nicht heißt, dass es nicht auch da zu handwerklichen Fehlern kommt. Einen Nachrichtenartikel kann man nicht mit einem kommentierenden Satz anfangen, klar.

STANDARD: Aber die Grenze ist fließend?

Spillmann: Die Grenze ist fließend, und ich glaube, sie bleibt auch fließend. Das andere ist ein aseptisches, für unseren journalistischen Kulturkreis artfremdes Umgehen mit Inhalten. Wir bekennen uns ja zu einem Standpunkt. Wir glauben, die Leserinnen und Leser sind mündig genug zu entscheiden, wie sie mit dieser Mischform, mit unseren Inhalten umgehen. (Harald Fidler/DER STANDARD; Printausgabe, 23.3.2011/Langfasssung)