Was hilft gegen Midlife-Crisis? Der "Flow" zum Beispiel.

Fotos von der Reise in einer Ansichtssache.

Foto: Anderl Steiner

Mountainbiketouren: Ibrahim Ait Ouarab, E-Mail: trekadventurer@yahoo.fr, Tel +212 667 690903, macht Berg- und Mountainbiketouren sowie Wüstensafaris.

Fotos von der Reise gibt's in einer Ansichtssache.

Foto: Anderl Steiner

Meine Alpinkameraden hatten beschlossen, zum Schitourengehen nach Marokko zu fahren. Ich war mir nicht sicher, ob ich auch wollte. Nicht, dass ich nicht an Marokko interessiert war, im Gegenteil: Ich fragte mich, ob mir das reichen würde. Ich verlieh also der Reise einfach einen zusätzlichen Höhepunkt: Ich wollte der erste Mensch sein, der den sagenumwobenen Toubkal mit dem Mountainbike besteigt, um anschließend einen irren Downhill über gesamt 3.700 Höhenmeter zurück nach Marrakesch durchzuführen. Eine sowohl logistische als auch mentale Herausforderung. Ich wurde immer wieder gefragt, warum ich das mache. Nach anfänglichen Erklärungsversuchen, wie besondere Herausforderung, Training, Exotik etc. gab ich schließlich den wahren Grund bekannt: Ich habe die Midlife Crisis!

Die Vorbereitungen waren schnell abgeschlossen, die körperliche Fitness stimmt sowieso, wenn man sich auf ein Mountainbikerennen wie die Salzkammergut Trophy mit 212 Kilometer und 7.100 Höhenmeter vorbereitet.

"Bon jour, ca va? Bonbon?"

Am Tag nach der Ankunft in Marrakesch starte ich. Kurz nach Verlassen des Trubels einer nordafrikanischen Stadt geht es entspannt auf schnurgeraden Landstraßen nach Süden, immer das gewaltige Atlas-Massiv vor Augen. Die Autos und LKWs nehmen überraschend viel Rücksicht auf Radfahrer. Stetig leicht bergauf führt der Weg Richtung Asni, das auf etwa 1.200 Meter Seehöhe den Beginn des Gebirges markiert. Schulmädchen laufen mir entgegen, leider kann ich deren Bitte "Bonjour, Bonbon!" nicht entsprechen, Süßigkeiten hatte ich nicht im Gepäck. Mir fällt die freundliche Grundeinstellung der Einheimischen auf. Jeder offensichtliche Tourist wird mit "Bonjour, ca va?" begrüßt. Wenn man sich die Zeit nimmt und ein Gespräch beginnt, wird man nach dem Ziel gefragt, bekommt den Weg erklärt und man wünscht mir Glück.

Die Straße wird schmäler und nach vier Stunden erreiche ich das Etappenziel des ersten Tages: Das Bergdorf Imlil, der Ausgangspunkt für viele Bergtouren im Toubkal-Nationalpark. Hier treffe ich auf meine Kameraden, die mit dem Minibus angereist sind. Ich genieße die letzte warme Dusche für mehrere Tage, bevor der spektakuläre Teil beginnt.

Mach es wie die Maultiere

Am nächsten Morgen verlasse ich Imlil und kann bis auf 1.900 Meter Seehöhe fahren. Hier beginnt ein Maultierpfad, der bergauf absolut unfahrbar ist. Also nehme ich das Bike auf die Schulter und beginne, gemeinsam mit anderen Bergsteigen und zahlreichen Maultierführern, zu wandern. Immer wieder bieten mir die Führer an, mein Bike auf ein Maultier (oder sind es Mulis?) zu schnallen. Ich lehne dankend ab, ich möchte den Berg "by fair means", also ohne Hilfsmittel bezwingen. Das ist auch ein Symptom der Midlife Crisis, stelle ich beruhigt fest.

Die Tiere tragen die bis zu 60 Kilogramm Gepäck mit stoischer Ruhe, aber trotzdem wesentlich schneller als ich die Berge hinauf. Ich versuche, diese Eigenschaft zu kopieren und erreiche die höchste Siedlung Sidi Chamharouch (2.300 Meter), eine Pilgerstätte. Die 25 permanent dort lebenden Berber versuchen mir zuerst Andenken zu verkaufen und meine Handschuhe und Jacke gegen einen Teppich zu tauschen. Ich lehne höflich ab, mache aber doch Zugeständnisse: Ich kaufe ein Cola, scheinbar das Nationalgetränk, und verspreche, bei der Rückkehr vom Berg den „Shop" zu besuchen.

Der mit dem Bike

Damit wandere ich weiter, wissend dass ich das Bike nur noch 900 Höhenmeter bis zum Basislager zu tragen habe. Nach vier Stunden erreiche ich endlich die Toubkal-Hütte auf 3.200 Meter Seehöhe. Das Wetter erlaubt mir, nach einer herzlichen Begrüßung durch den Hüttenwirt Mohammed und unter neugierigen Blicken einiger englischer und französischer Bergsteiger, einen Minztee (das wirkliche Nationalgetränk der Marokkaner) auf der Terrasse des gewaltigen Steinbaus zu genießen. Die Toubkal-Hütte wird auch im Winter nur durch eine Feuerstelle beheizt, welche natürlich am Abend ein beliebter Treffpunkt aller anwesenden Gäste und Mitarbeiter ist. Hier erfährt man viel über Land und Leute sowie die Motive, warum viele Europäer den Toubkal besteigen möchten. Ich höre auch, dass angeblich jemand mit einem Bike hier sein soll und tausche einen wissenden Blick mit Mohammed. Das Abendessen ist sehr gut, vor allem wenn man bedenkt, dass alle Zutaten mit Mulis und Trägern herbeigeschafft werden.

Am nächsten Morgen treffe ich vor der Hütte zwei Italiener, die den Toubkal besteigen wollen und frage sie, ob ich sie begleiten dürfte. Mit einem Blick auf meinen Rucksack, an dem ein Bike befestigt ist, lachen sie und sagen ja. Als ich schließlich mit ihnen gemeinsam aufbreche, fragen sie mich, ob ich verrückt sei. Ich bejahe, weil ich diese Frage zum ersten Mal höre. Schließlich liegen vor mir 1.000 Höhenmeter über pickelharten Schnee. Mit Steigeisen und Skistöcken stellt das aber für einen erfahrenen Alpinisten kein Problem dar. Kontinuierlich schraube ich mich nach oben, bis ich endlich den Gipfelhang vor mir sehe. Es herrschen perfekte Bedingungen und interessanterweise sind die obersten 200 Höhenmeter schneefrei! Das steigert meine Vorfreude auf die anstehende Abfahrt aus schwindelerregender Höhe!

Midlife Crisis - was machst du nun?

Ich erreiche den Gipfel kurz nach den Italienern, die mich überschwänglich begrüßen: „Sei un vero figlio dei montagne!" ("Du bist ein wahrer Sohn der Berge" Anm.) Der Gipfelblick - freie Sicht in alle Richtungen - das Gefühl ist unbeschreiblich. Ich hab‘s geschafft! Midlife Crisis - was machst du nun?
Durch die perfekten Bedingungen kann ich die ersten zweihundert Höhenmeter fahren und schaffe es sogar, fast einen Überschlag auf über 4.000 Meter zu produzieren. Ich lache, alles ist cool! Ich fahre anschließend noch im Schnee, allerdings nur in den flacheren Teilen, im Steilen ist es zu hart und zu gefährlich. Die letzten Fahrminuten zur Hütte teile ich mir mit Schifahrern und Bergsteigern. Mohammed empfängt mich und sagt, er hätte immer an mich geglaubt, Hamdullilah! Typischerweise würden wir den Erfolg mit einem Bier feiern, allerdings ist Alkohol hier Fehlanzeige. Na dann eben mit Minztee.

Plötzlich passiert es: der Flow!

Am nächsten Morgen beginnt der großartigste Teil der Tour: der Downhill von der Hütte. Über ruppige Pfade, immer entlang steiler Abhänge und daher mit dosiertem Risiko, talauswärts. Manchmal begegne ich Mulis und Bergsteigern und werde eifrig fotografiert. Nach 90 Minuten erreiche ich Sidi Chamharouch und löse mein Versprechen ein: Ich feilsche mit Mahmoud mit vollem Einsatz um eine kleine Figur, die Glück bringt und kaufe sie schließlich. Die Mine von Mahmoud verwandelt sich in pure Zufriedenheit. Er versichert mir, ich wäre der härteste Geschäftspartner, den er je getroffen hätte. Jaja. In Marrakesch kosten die gleichen Figuren etwa die Hälfte, was eine spätere Recherche ergibt.

Nach dem obligatorischen Cola fahre ich weiter über geniale Pfade ohne Ende. Und da passiert es: der Flow! Ein eigenartiges Gefühl, bei dem die Zeit stehen bleibt oder rasend schnell vergeht, wie man‘s nimmt. Alles geht wie von selbst, man fühlt sich federleicht (auch bei einem Körpergewicht von 85 Kilogramm), es ist purer Genuss. Leider kann man den Flow nicht trainieren oder lernen. Er passiert einfach - oder auch nicht.

Dann erreiche ich wieder das Dorf Imlil und die Fahrt geht weiter auf Straßen, die letzten 65 Kilometer zurück nach Marrakesch. Eine reine Fahrt der Freude. Langsam rieche ich die Stadt, der Verkehr wird stärker. Zurück im Trubel der Metropole treffe ich meine Freunde, die bereits mit dem Minibus zurückgekommen sind und endlich: Wir können ein Bier trinken und anschließend das unglaubliche Leben am „Platz der Gehenkten" genießen.

Rückblickend weiß ich, ich werde dieses großartige Land mit den wundervollen Menschen wieder besuchen. Vielleicht mit meiner Familie, vielleicht wieder mit dem Bike, wer weiß? (Text und Fotos: Anderl Steiner)

Für Interessenten: eine Zusammenfassung der Abfahrt findet man auf YouTube