Wien - Es gibt nicht wenige einflussreiche Autoren der Moderne, die an der Uhr gedreht haben: Seit dem verhängnisvollen Biss in ein Stück Teegebäck, mit dem Marcel Prousts Suche nach der verlorenen Zeit begann, setzten zahllose Dichter ihren Ehrgeiz in die Zerlegung der Zeit. Kaum jemand aber übte das literarische Uhrmacherhandwerk so kunstvoll aus wie der polnisch-jüdische Meistererzähler Bruno Schulz (1892-1942). Der Zeichenlehrer aus der galizischen Provinzstadt Drohobycz überwand in der Erzählung Das Sanatorium zur Sanduhr kein geringeres Hindernis als jene ominöse Schranke, die die Lebenden von den Hingeschiedenen trennt.
Der Ich-Erzähler ist ein junger Mann mit unübersehbar autobiografischen Zügen. Er reist in einem Zug, dessen "archaische Waggons geräumig wie Zimmer" sind, in eine abgelegene Weltgegend, in der, unklarer klimatischer Bedingungen wegen, ein ewiger Dämmerzustand herrscht.
Das Väterchen, von "zu Hause aus betrachtet" längst gestorben, liegt als Kurgast wie ein Kätzchen zusammengerollt im Federbett seines Anstaltszimmers. Alle sind sterbensmüde in diesem Tal der aufgeweckten Toten. Vater Jakub verbringt die spärlichen Wachphasen in einem Geschäftslokal, wo er - ganz wie im richtigen Leben - Seide verkauft. Ein Kettenhund, der vor dem Sanatorium knurrend auf der Lauer liegt, entpuppt sich beim zweiten Hinschauen als verwahrloster Mensch: "ein Buchbinder, ein Großmaul, einer, der auf Kundgebungen sprach, ein Parteimann".
Der Besucher nimmt, von namenlosem Grauen erfasst, bei der erstbesten Gelegenheit Reißaus. In jener Gegend, in der die "zurückgestellte Zeit" ein zweites, wenig bekömmliches Leben schenkt, toben Revolutionen und treiben Bürgerwehren ihr Unwesen. Der Flüchtling kriecht in die Obhut des Eisenbahnzuges zurück, in dessen unerschlossenen Weiten er, mit nichts als einer geborgten Schaffnermütze bewaffnet, um "kleine Münzen" bettelt.
Schulz, dem Fantasten der Feder, blieben größere Ausbrüche aus der Enge der Provinz verwehrt. Bis ins einzelne Detail verewigt er in seiner Erzählsammlung Das Sanatorium zur Sanduhr (1937), in Neuübersetzung soeben bei Carl Hanser in München erschienen, den Umraum einer kleinbürgerlichen Lebenswelt. Der zu Tobsuchtsanfällen neigende, an Geschäftsbriefen feilende Vater verschmilzt mit der üppig gemusterten Tapete. Die Mutter genießt ein anonymes Schattendasein in den Winkeln eines in tausenderlei Farbnuancen zerfließenden Milieus.
Zu Lebzeiten berühmt wurde der Sprachartist Schulz 1934, als seine Prosasammlung Die Zimtläden Furore machte. Von den Anforderungen des Berufslebens erstickt, vom Picken erbärmlicher "Zeitkrümel" zermürbt, ging er beim Schreiben ganz selbstverständlich aufs Ganze. Schulz ist ein Wollüstling der Ausuferung - einer, der beim akribischen Sammeln von Details auf das Dahinter von Wind- und Wetterphänomenen abzielt.
Funkelnde Übersetzung
Ruht die Schar der Hausbewohner in einer schwülen Julinacht, liegen die von Morpheus Betäubten "wie Mohnkörner in den Fächern" ein- und derselben Kapsel. Die Schläfer teilen den einen, umgehenden Traum wie Nahrung unter sich auf. Immerzu bilden die Turbulenzen der Luft "Spaliere", weiten sich die Räume unter der Last von Schulz' ausladenden Sätzen. Übersetzerin Doreen Daume, die bereits Die Zimtläden in ein betörend flimmerndes und fein ausgehörtes Deutsch herüberhob, verdient für ihre klar strukturierten Satzperioden frenetisches Lob: als hätte ein Juwelier einen Edelstein neu gefasst, um dessen Funkeln erst richtig zur Geltung zu bringen.
Der tragische Verlauf von Bruno Schulz' weiterem Leben macht den Blick auf seine Auseinandersetzung mit Zeit und Tod unumgänglich. Zeit ist jener Rohstoff, der nur dem Poeten im Überfluss zu Gebote steht. Allein der Dichter nimmt sich jener Ereignisse an, "die zu spät gekommen waren, als die Zeit schon zur Gänze vergeben, verteilt und vergriffen war".
Eine fundamentale Zweideutigkeit bemächtigt sich der galizischen Welt: Die Bewohner hübscher, weiß geputzter Städtchen trippeln wie auf Abruf durch das schwellende Grün eines Frühlings, der sich üppig dehnt und keine Anstalten macht, der Vergänglichkeit zu weichen.
Im Kosmos des Weltkleinbürgers Schulz herrscht die herrlichste Form des konzentrierten Stillstands: Die Horizonte spannen sich wie elastische Gürtel um eine Welt, in der noch die Postwertzeichen mit dem Konterfei des alten Kaisers Franz Joseph I. Wert und Geltung besitzen.
Bruno Schulz musste die Demütigungen durch den Wahnwitz der Moderne am eigenen Leibe erfahren. Vor 1918 aus der k. u. k. Armee ausgemustert, war er nach dem Tod des Vaters für den Unterhalt der Familie zuständig. Als autodidaktischer Grafiker versah er seine Schriften mit Illustrationen, deren finstere Komik an Alfred Kubin denken lässt. Der Krieg verschonte Schulz nicht. Nach erzwungenen Propagandaarbeiten für die Rote Armee fand er als Bewohner des Drohobyczer Ghettos in einem SS-Hauptscharführer einen zweifelhaften "Protektor". 1942 wurde Schulz auf offener Straße erschossen. (Ronald Pohl, DER STANDARD - Printausgabe, 25. März 2011)