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Auflistung von Niederlagen: Hans Magnus Enzensberger.

Foto: EPA/MONTSERRAT T DIEZ

Vor 24 Jahren ist Hans Magnus Enzensbergers Reisebericht Ach, Europa erschienen. Der Schriftsteller hat seine Eindrücke aus sieben Ländern zu einem europäischen Mosaik zusammengefügt, das eine vielschichtige kulturelle Vielfalt zeigt. Fast ein Vierteljahrhundert später hat sich der Schriftsteller noch einmal aufgemacht, um dem nachzuspüren, was eigentlich Europa ist. Er hat sich auf Brüssel und die dort residierenden EU-Schaltstellen konzentriert. Aus seinem Seufzer ist ein Wutschrei geworden, je intensiver sich der inzwischen 81-Jährige mit der Europäischen Union beschäftigte.

Er hat mit Verve recherchiert. Mit seiner unverwechselbaren Ironie dekuvriert Enzensberger den typischen Brüsseler Speach, die "beliebten Abkürzungen, unter denen sich niemand etwas vorstellen kann". Jedem, der erstmals mit EU-Agenden zu tun hat, erscheinen diese Akronyme wie ECOFIN oder GASP als eine Art Geheimwissen. Aber noch keiner hat ihre Wortbedeutung so genüsslich auseinandergenommen.

Typisch deutsch reiht Enzensberger präzise Fakten an Fakten, leuchtet in jeden Winkel, seziert die Brüsseler Bürokratie und gibt auch ein Gespräch mit einem Brüsseler Beamten wieder. Enzensberger baut seine Handlung wie einen Krimi auf und bastelt sich seinen Sprengstoff selbst: So führt er das vor Augen, was die EU in seinen Augen ist: ein "sanftes Monster", das zur "Entmündigung Europas" führt - eigentlich zur Entmündigung der Europäer.

Er belässt es nicht bei den üblichen Beispielen wie der Regelung der Gurkenkrümmung (die übrigens auf Wunsch des Handels, um das Gemüse besser stapeln zu können, erlassen wurde). Enzensberger gräbt tiefer: "Man spricht ja seit ungefähr 30 Jahren vom demokratischen Defizit der Europäischen Union und tut so, als wenn das ein Schönheitsfehler wäre, aber es ist im Grunde die Geschäftsgrundlage der ganzen Operation." Er fordert mehr Einfluss für das Europäische Parlament, kritisiert die Machtkonzentration in der Kommission und Politiker, die zu Hause alles auf "die in Brüssel" schieben, obwohl sie selbst bei den Ratssitzungen mitentschieden haben.

Enzensberger hat sich nicht damit begnügt, die Streitschrift eines europäischen "Wutbürgers" vorzulegen. Er geht zurück zu den Wurzeln, nimmt sich die Zeit, die Gründungsgeschichte der EU zu erzählen. Er erinnert an einen der Gründungsväter, Jean Monnet. Auf Monnet geht übrigens der derzeit viel gebrauchte Begriff Rettungsschirm zurück, "nur dass er, dem jedes Pathos verdächtig war, sich 1922 weniger dramatisch ausdrückte, als es um den drohenden Bankrott Österreichs ging. Er sprach damals lieber von einem Regenschirm".

Enzensbergers 67 Seiten umfassender Essay ist eine brillant und teilweise amüsant zu lesende Polemik, die sich häufig auf Robert Menasse bezieht. Dessen Auseinandersetzung mit Europa in diversen Zeitungsartikeln hat Enzensberger angestachelt, sich selbst mit dem "in seiner Machtgier unaufhaltsam vorwärts wälzenden Ungeheuer" zu konfrontieren. Sein Befund unterscheidet sich damit von jenem josephinischen Bild, das Menasse von der EU hat.

Enzensbergers Schrift ist das deutsche Gegenstück zu Stéphane Hessels französischer Kampfschrift Empört euch!, die im Heimatland des 93-jährigen Franzosen eine Millionenauflage erreicht hat. Gar nicht wütend ist der Autor über das Kulturdefizit der EU: "Je weniger sich die Brüsseler Instanzen für Kultur interessieren, desto besser. Direktiven darüber, wie in Europa gemalt, getanzt und geschrieben werden soll, hätten uns gerade noch gefehlt."

Enzensberger hat sich nie dar-um geschert, wie etwas geschrieben werden soll und welche Erwartungshaltung er bedienen sollte. Zum Jahreswechsel sind ein schwarz und ein weiß gehaltenes notizkalenderhaftes Buch mit Enzensbergers "Lieblings-Flops" und seinem "Ideen-Magazin" erschienen. Sein mit weißem Einband versehenes Album ist ein Sammelsurium an Einfällen, Weltbetrachtungen und bilderbuchartigen Skizzen. In seinen schwarz eingebundenen Flops, die vielmehr nicht realisierte Projekte sind, kommen auch das Burgtheater und André Heller vor.

Der Schalk blitzt Enzensberger förmlich aus den Augen, wenn er sich am Rande des Mediengipfels in Lech über jene lustig macht, deren Erwartungen er nicht erfüllt hat: dass er in seinem Alter keine geschönte Biografie vorgestellt habe, sondern die penible Auflistung seiner Niederlagen.

Und mit seinem "Europa-Text" hat er "wieder etwas vorgelegt, an dem viele jetzt etwas zu kauen haben", sagte er jüngst in einem Telefonat. Einladungen zu Diskussionsrunden zum Thema EU lehnt er deshalb derzeit ab. Er habe genug zu tun. Woran er arbeitet, verrät Enzensberger nicht. Aber die drei Bücher, die im Abstand von einigen Wochen erschienen sind, zeigen die noch immer sprudelnde Schaffenskraft des über 80-Jährigen, der die Lust am Provozieren nicht verloren hat. (Alexandra Föderl-Schmid, DER STANDARD/ALBUM - Printausgabe, 26./27. März 2011)