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Roberto Carlos (klein) und Miroslav Slavov (groß)...

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...bei der gemeinsam Pflichtlektüre.

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Wien - Das bloße Betreten eines Rasens kann Gänsehaut verursachen. Miroslav Slavov kann seit dem 1. März 2011 davon erzählen, an jenem Dienstag gab der 20-jährige Stürmer seine Pflichtspiel-Premiere für den FC Anschi Machatschkala, es war gleichzeitig sein erstes Bewerbsspiel für eine Profimannschaft. Der Gegner hieß Zenit St. Petersburg, das Cupspiel gegen den russischen Meister ging mit 2:3 verloren. Das Spiel sei laut Slavov allerdings unglücklich verlaufen, Zenit wurde in der ersten Halbzeit ein "lächerlicher Elfmeter" zugesprochen.

Dass Slavov überhaupt das Trikot des FC Anschi Machatschkala trägt, ist in erster und zweiter Linie dem Zufall zu verdanken. Gemeinsam mit Vater und Bruder wollte er am 28. Juni 2010 ein Training des FC Metalist Charkiw in Vösendorf besuchen. Am Platz angekommen, fand die fußballbegeisterte Familie allerdings nicht den ukrainischen Spitzenklub sondern die Mannschaften von Machatschkala und Hapoel Tel Aviv vor. Ein in Badeschlapfen auf der Tribüne weilender Herr entpuppte sich dabei als die ukrainische Fußball-Ikone Andrij Hussin, seines Zeichens Co-Trainer von Machatschkala. Ob es dem Verein nicht an Stürmern fehle, so des Vaters mehr im Scherz gestellte Frage. Es folgten ein Probetraining und ein bis 2014 laufender Vertrag.

Die Wiener Fußballschule

Natürlich war Miroslav Slavov zu diesem Zeitpunkt bereits ein leicht beschriebenes Blatt. Nach dem seine Eltern Mitte der neunziger Jahre von Kiew nach Wien zogen, verbrachte der Bub nicht nur jede frei Minute mit dem Fußball auf der Jesuitenwiese, sondern lernte das Spiel auch bei der Austria, dann bei der Admira, um über den Umweg Rapid schließlich bei der Vienna zu landen. Bei den Döblingern stand Slavov 2008 kurz vor dem Sprung in die erste Mannschaft, als ein gewisser Andrzej Szarmach vorstellig wurde. Der Pole war nicht nur zweitbester WM-Torschütze 1974, er ist auch als Osteuropa-Scout für Girondins Bordeaux tätig und sah Slavov in einem Match der ukrainischen Nachwuchs-Nationalelf. Schnell wurden sich die Gesprächspartner einig, der siebzehnjährige Spieler unterschrieb einen Vertrag als "Stagiaire" und war damit für die Reserve des französischen Topklubs vorgesehen.

"Es war ein Segen, ich habe Gott gedankt", erinnert sich Slavov voller Euphorie an seine Zeit in Frankreich zurück. Es sei ein Privileg gewesen, mit der Kampfmannschaft, mit Spielern wie Yoann Gourcuff oder Marouane Chamakh zu trainieren. Girondins erlebte zu jener Zeit eine Hochphase, stürmte mit Siegen gegen Bayern München und Juventus Turin ins Viertelfinale der Champions League. Dementsprechend schwer fiel es, sich für die Profis zu empfehlen: "Wir hatten sechs Topstürmer, von der Reserve wurden immer wieder Mittelfeldspieler und Verteidiger hochgezogen, Angreifer kamen nicht zum Zug."

Slavov will sich nicht beklagen, sein Transfer nach Frankreich sei ein "Wahnsinnserlebnis" gewesen. Er habe sich nicht nur als Spieler, sondern auch als Mensch weiterentwickelt. Neben Deutsch, Englisch, Ukrainisch und Russisch spreche er nun auch Französisch. Und wahrscheinlich hätte er seine Sprachkenntnisse in der Aquitaine noch verbessern können, wäre er an jenem sonnigen Urlaubstag nicht nach Vösendorf gefahren. Da ihm Bordeaux zu diesem Zeitpunkt nur ein weiteres Jahr in der Reserve und keinen Profivertrag anbot, fiel seine Entscheidung zu Gunsten des russischen Premjer-Liga-Vereins Anschi.

Millionen für den Fußball

Machatschkala liegt am Kaspischen Meer in der russischen Teilrepublik Dagestan, und die ist nicht nur für ihr relativ mildes Klima bekannt. Die 50.000 Quadratkilometer große Republik mit etwa 2,7 Millionen Einwohnern gilt weltweit als die Region mit der größten ethnischen Vielfalt. Der tschetschenische Krieg zwischen islamistischen Rebellen und der russischen Armee greift immer wieder auf Dagestan über. Die Teilrepublik gilt derzeit als größter Unruheherd im Nordkaukasus und wird immer wieder von Anschlägen erschüttert. Da kommt es schon mal vor, dass ein Fußballspiel aus Sicherheitsgründen von Machatschkala nach Grozny verlegt werden muss.

Um einen Spieler in diese Gegend zu locken, muss man gute Argumente haben. Vereinspräsident Suleiman Kerimow hat sie. Der Oligarch gilt als einer der reichsten Männer der Welt, sein durch die Krise stark geschrumpftes Vermögen wurde unlängst auf 5,5 Milliarden US-Dollar geschätzt. Da fällt es finanziell kaum ins Gewicht, dass Kerimow einst seinen schwarzen Ferrari Enzo bei einem Unfall in Nizza in zwei Stücke teilte oder er eine halbe Million Dollar für ein Geburtstagsständchen von Christina Aguilera springen ließ. 

Nun ist es aber der Fußball, der Kerimow schwach werden lässt: Im Jänner 2011 übernahm er den FC Anschi, seither zieht es auch große Namen nach Dagestan. Für eine Jahresgage von kolportierten sechs Millionen Dollar läuft Roberto Carlos in Machatschkala auf, fünf Millionen Ablöse wurden für den brasilianischen Teamspieler Diego Tardelli bezahlt und gar 10 Millionen für dessen Landsmann Jucilei. Der Marokkaner Mbark Boussoufa, zwei Mal "Spieler des Jahres" in Belgien, wurde kurz vor Transferschluss von Anderlecht losgeeist. Als nächster Spieler steht Gennaro Gattuso auf dem Wunschzettel. Zuletzt wurde sogar eine Reaktivierung von Ronaldo angedacht.

Die Nationalmannschaft von Dagestan

Nun könnte man befürchten, dass es zu Spannungen führt, wenn in einer der ärmsten Republiken der Russischen Föderation derartige Gehälter und Ablösesummen bezahlt werden. Slavov kann jedoch nichts derartiges berichten, im Gegenteil: "Wir sind quasi die Nationalmannschaft von Dagestan und der Stolz der Einwohner. Jeder will ein Foto mit Roberto Carlos machen und er ist immer mit einem Lächeln dazu bereit." Im Grunde verhalte es sich wie bei Liga-Konkurrenten Terek Grozny in Tschetschenien, "es herrschen Brot und Spiele."

Geld alleine würde aber nicht ausreichen, um derartige Kaliber nach Machatschkala zu lotsen. Die Größen der Zunft sind eine gewisse Lebensqualität und eine funktionierende Infrastruktur gewohnt. Selbst der reiche Kerimow kann diese Erwartungen nicht von heute auf morgen erfüllen. Zumindest nicht in Dagestan. Also lebt die gesamte Mannschaft außer Landes, zeitweise im türkischen Belek, manchmal auch im russischen Sotschi. Zu Heim- und Auswärtsspielen reist das Team per Flugzeug an, die Mannschaft kommt damit problemlos zurecht. "Es ist herrlich, wir haben den ganzen Winter an einem Urlaubsort verbracht, wie österreichische Pensionisten", erzählt Slavov mit einem Lächeln im Gesicht.

Natürlich sollen den Investitionen und Bemühungen auch die Siege folgen. "Er will in den nächsten drei Jahren Meister werden", sagt der Kicker über seinen stets von Leibwächtern umringten Präsidenten. Aber Slavov weiß natürlich, dass es mit Zenit St. Petersburg, Rubin Kasan und den vier Moskauer Traditionsvereinen Lokomotive, Spartak, ZSKA und Dynamo reichlich Konkurrenz im Kampf um den geforderten Titel gibt: "Das wird nicht einfach. Für mich gilt es aber zunächst, Einsätze und Tore zu sammeln." Der Saisonauftakt der im März begonnenen Meisterschaft verlief jedenfalls verheißungsvoll: In zwei von drei Spielen stand Slavov trotz starker Konkurrenz in der Startformation, Trainer Gadschi Gadschijew zählt auf die Kopfballstärke des 1,97 Meter großen Spielers. Nur die Ergebnisse lassen noch zu wünschen übrig: dem Cup-Aus gegen Zenit folgte ein 0:0 gegen den FK Krasnodar und eine weitere Niederlage gegen St. Petersburg.

Traum von einer EM-Teilnahme

Für das österreichische Nationalteam kommt Slavov nicht in Frage. Er sieht sich selbst zwar als "echten Wiener", und auch die Staatsbürgerschaft sei für ihn als Sohn einer Österreicherin immer ein Thema gewesen, allerdings müsste er dann den ukrainischen Pass abgeben, da eine Doppelstaatsbürgerschaft nicht möglich ist. So kurz vor der Europameisterschaft in der Ukraine scheint dies für Slavov undenkbar: "Mein Jahrgang hat die U19-EM gewonnen, ich war damals am Meniskus verletzt, das war bitter genug." Der Traum von einer EM-Teilnahme lebt und "große Stürmer gibt es im ÖFB-Team ohnehin genug." (Philip Bauer; derStandard.at; 28. März 2011)