Kobe - Riku kämpft mit den Tränen. "Ich war in der Schule, als der Tsunami kam", sagt der Zwölfjährige in die Kamera. Riku war zwar in Sicherheit, aber er sah in den Wassermassen sein Dorf vorbeitreiben, Häuser und Kühlschränke. Er war geschockt. Schlagartig hat er verstanden, welche Dinge ihm wichtig sind. Der Alltag, das Normale - und seine Videospiele. Niemand weiß, wann seine Angst wieder verschwinden wird.
600 Kilometer entfernt, in Ashiya bei Kobe, erschaudert Shinji Ito, Schulleiter der Hamakaze-Grundschule, bei diesen Bildern. "Ich habe Angst, welche Probleme die Kinder entwickeln werden, nachdem sich das erste Chaos gelegt haben wird. Wir müssen uns beeilen, den Kindern zu helfen", sagt der Lehrer, "die Zeit drängt."
Ito weiß, wovon er spricht. Nach dem Erdbeben in Kobe 1995 halfen er und hunderte seiner Kollegen in den Schulen der Region den Kindern, ihre Traumata zu überwinden. Mit Erfolg. Die Zahl der Problemkinder begann nach vier Jahren drastisch zu sinken.
Potenziertes Leid
Doch diesmal wird sich das Leid potenzieren, gerade für die Kleinsten. Denn beim Erdbeben am 11. März wurde 350-mal mehr Energie frei als in Kobe. Der folgende Tsunami hat auf 600 Kilometern Länge die Küstenstädte verwüstet. Mehr als 20.000 Menschen sind wahrscheinlich gestorben, dreimal so viel wie in Kobe.
"Die Charakteristiken der Beben war sehr unterschiedlich", sagt Motohiko Maruta, Leiter des Krisenteams der Schulbehörde der Präfektur Hyogo. Maruta ist gerade von seinem Einsatz in der vom Tsunami verwüsteten Ortschaft Minami-Sanriku zurückkehrt. 1995 seien kaum Kinder gestorben, die Kleinen hätten keine Toten gesehen - das Beben kam morgens, und sie waren bei ihren Eltern. Das jetzige Beben habe am Nachmittag zugeschlagen, viele Kinder waren in der Schule. "Sie haben nicht nur den Tsunami Häuser wegreißen sehen, viele Kinder haben Eltern, Angehörige oder Freunde verloren." Sein Rat: So schnell wie möglich den Schulbetrieb wiederaufzunehmen, um den Kindern zu helfen.
Geschützte Spielzonen
"Die Japaner machen einen richtig guten Job", sagt Ian Woolverton. Woolverton leitet den Einsatz der internationalen NGO "Save the Children", die 40 Mitarbeiter vor Ort hat. Sie bauen geschützte Spielzonen auf und sorgen dafür, dass die Kleinen das Notwendigste erhalten. "Solange sie mit ihren Familien zusammen sind, ist die Gefahr nicht so groß, dass sie langfristige Schäden erleiden", sagt Woolverton.
Die Japaner selbst sind da skeptischer: "In den ersten Tagen sind die Kinder in einer Ausnahmesituation" sagt Yasushi Nakajima vom Hiroo-Hospital in Tokio. Er war einer der ersten Ärzte im Fischerdorf Kesennuma, das von Beben und Tsunami und dann von einer Feuersbrunst heimgesucht wurde. Zuerst würden die Menschen "eine Art Desaster-Utopie durchleben", sagt Nakajima. Zu Anfang seien alle gleich, arm oder reich. Die Solidarität sei groß, alle denken an den Wiederaufbau. Und damit spalte sich die Schicksalsgemeinschaft in die, die mit anpacken können, und die, die es nicht können. "Längerfristig wird es besonders für die Senioren und Kinder hart", sagt Nakajima. (Martin Kölling, DER STANDARD-Printausgabe, 29.3.2011)