"Schnelle Lösungen wird es nicht geben, das ist eine langfristige Angelegenheit."

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İnci Dirim ist Universitätsprofessorin für Deutsch als Zweitsprache (DaZ). Im daStandard-Interview spricht sie über Mehrsprachigkeit, die bilinguale Schule der Zukunft und erläutert die mit den Begriffen Interkulturalität, Erst- bzw. Zweitsprache einhergehenden Probleme

daStandard.at: Frau Dirim, womit beschäftigt sich der Schwerpunkt Deutsch als Zweitsprache?

İnci Dirim: Bei DaZ geht es um das Deutsche in deutschsprachigen Gebieten, genauer, in amtlich deutschsprachigen Regionen. Dort gibt es einerseits die Amtssprache Deutsch in öffentlichen Institutionen und Bildungseinrichtungen, auf der anderen Seite aber Menschen, die mehrsprachig sind. Das dadurch entstehende Spannungsverhältnis ist Thema des Deutschen als Zweitsprache. Es geht also um die sprachliche Verfasstheit der Einwanderungsgesellschaft und damit auch um Mehrsprachigkeit.

daStandard.at: Ist es in Migrationskontexten klar definierbar, was die jeweilige Erst-, Mutter- bzw. Herkunftssprache ist?

Dirim: Nein, deshalb muss es viele Begriffe geben, um die sich vielfältig äußernde Mehrsprachigkeit möglichst breit erfassen zu können. Wer auf dem Gebiet der Mehrsprachigkeit arbeitet, muss eine kritische Haltung gegenüber bestehenden Begriffen haben. Von der klassischen Vorstellung, dass Kinder zunächst die Sprache der Eltern als Muttersprache, und dann später Deutsch als Zweitsprache lernen, muss man sich verabschieden. Dieses Modell mag in manchen Fällen zutreffen, in vielen Fällen tut es das aber nicht.

daStandard.at: Ein klares Plädoyer für die kritische Reflexion der Begrifflichkeiten.

Dirim: Ja, weil sie oftmals Zuschreibungen sind. Wenn ich jetzt sage: Es gibt eine Erstsprache, die eine Migrantensprache ist, und eine Zweisprache, die Deutsch ist, erzeuge ich damit auch eine bestimmte Hierarchie.

daStandard.at: Müsste dann nicht auch der Begriff ‚Deutsch als Zweitsprache' hinterfragt werden?
Dirim: Ja, weil wenn es etwas Zweites gibt, muss es logischerweise auch etwas Erstes geben. Das Zweite rennt diesem Ersten zwar immer hinterher, ist aber nicht in der Lage, es wirklich einzuholen. Solange es keine alternativen Begriffe gibt, muss über derartige Fragen zumindest ausführlich diskutiert werden.
daStandard.at: In der Bildungsdebatte wird nicht zuletzt die Frage diskutiert, ob es für Kinder, unabhängig vom jeweils individuellen Migrationshintergrund, beim Erlernen einer Zweitsprache von Vorteil ist, wenn sie die Muttersprache gut beherrschen?

Dirim: Das kann ich so definitiv nicht bestätigen. Was heißt das überhaupt, eine Sprache gut zu beherrschen und mit welchen Maßstäben kann ich das messen? Wenn ich hier ein Kind habe, das Ungarisch spricht, wird es nicht dasselbe Ungarisch sprechen, dass es in Ungarn sprechen würde ... Eine solche Meinung geht von einem zu engen Sprachenbegriff aus, der eng an die jeweilige Nation und die Idee ‚Ein Land, eine Sprache' geknüpft ist. Die menschliche Sprache orientiert sich aber nicht an der Nation.

daStandard.at: Etwa 50 Prozent der SchülerInnen in Wien haben eine andere Mutter- bzw. Erstsprache als Deutsch. Nur den wenigsten von ihnen wird muttersprachlicher Unterricht angeboten. Wieso?

Dirim: Weil es dafür eine ganz große Umstellung in der Lehrerbildung benötigen würde, was eine finanzielle Frage ist. Meiner Ansicht nach gibt es bestimmte Angebote in den Schulen nur damit man sagen kann: Wir haben unsere Pflicht getan, wir entsprechen der gesellschaftlichen Heterogenität, die durch Migration entsteht. In der Realität ist es so, dass letzten Endes die multilingual Deutschsprachigen eine Minderheit in Großstädten werden, auch in Wien.

daStandard.at: Welche Konsequenzen müssten daraus gezogen werden?
Dirim: Man müsste das Bildungssystem grundlegend reformieren, große Geldmittel investieren und die Lehrerbildung umfassend ändern. Das Problem ist, dass man mit Mehrsprachigkeit an Schulen nicht umzugehen weiß. Das in den Griff zu kriegen ist sehr schwierig. Da müsste es schon ein Regierungsprogramm dafür geben, da müsste man sehr massiv daran arbeiten und das sehe ich im Moment nicht.
daStandard.at: Massiv arbeiten müsste man auch daran, verstärkt LehrerInnen mit so genanntem Migrationshintergrund auszubilden ...

Dirim: Diesbezüglich plant das Unterrichtsministerium derzeit ein Projekt, das bald starten soll. Natürlich sollte das gemacht werden, allerdings sehe ich auch da Probleme. Der Migrationshintergrund bedeutet sicher einen guten Zugang, aber nicht die Qualifikation an sich. Diese Personen müssen natürlich auf eine bestimmte Weise ausgebildet werden. Und auch hier sehe ich die Gefahr, dass man ‚Platzhalter' schafft: Dann gibt es an jeder Schule eine Lehrkraft mit Migrationshintergrund, alle können sagen ‚Ja, haben wir eh' und damit ist die Sache erledigt.

daStandard.at: Welche Maßnahmen müssen also getroffen werden, um den Bedürfnissen unserer multilingualen Schulen zu entsprechen?

Dirim: Schnelle Lösungen wird es nicht geben, das ist eine langfristige Angelegenheit. Ansetzen müsste man aber auf jeden Fall bei der Ausbildung der Studierenden, der zukünftigen Lehrenden. Aktuelle Studien aus Amerika zeigen, dass bilinguale Schulmodelle am Besten abschneiden. Das bedeutet, dass man die spezifischen Sprachen von Kindern und Jugendlichen in den Schulen berücksichtigen muss. Die Schule der Zukunft ist eine bilinguale, die aber auch über die Bilingualität hinausgehende Mehrsprachigkeit integriert.

daStandard.at: Stichwort Ausbildung von LehrerInnen: Seit längerem wird über die Reform der LehrerInnenausbildung diskutiert. Die vorliegenden Vorschläge gehen kaum auf Bedürfnisse ein, die durch Mehrsprachigkeit an Schulen entstehen. Es gibt bestenfalls ein paar schwammige Formulierungen dazu ...

Dirim: Ich habe mir vor kurzem die Bildungsstandards für das Unterrichtsfach Deutsch angeschaut, da kommt das Schlagwort ‚interkulturelle Kompetenz' Der Begriff ‚Interkulturalität' an sich ist ja auch nicht unproblematisch ...

daStandard.at: Wieso?

Dirim: Weil er Zuschreibungen erzeugen und damit letzten Endes Vorurteile bestätigen und Hierarchien festschreiben kann. Deshalb möchte ich nicht, dass Interkulturelles nur verankert wird. Es soll auf eine kritische Weise verankert werden, was ich im Moment nicht sehe. Ich befürchte, dass Fortbildungen zum Thema ‚Interkulturalität' so ablaufen, dass erklärt wird, wie die Leute einer bestimmten Nation oder Ethnie sind. Und das finde ich sehr problematisch!

daStandard.at: Eine letzte Frage: Wenn LehrerInnen Sie fragen würden, ob Eltern mit Migrationshintergrund mit ihrem Kind zu Hause Deutsch bzw. doch die jeweilige Muttersprache sprechen sollen, was würden Sie raten?

Dirim: Ich würde den Lehrkräften sagen, den Eltern keine Empfehlungen darüber geben, wie sie ihre Sprache gestalten, denn das ist privat. Für die Eltern geht es darum, eine Beziehung zu dem Kind aufzubauen, und in welcher Sprache oder Sprachform das passiert, ist nicht von Bedeutung. (Meri Disoski, daStandard.at, 29. März 2011)

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Institut für Germanistik: Homepage von İnci Dirim