Nun sind es inzwischen nicht nur Zeichen der Zeit, sondern schrille Weckrufe, die das Regime in Syrien zum Handeln zwingen. Scharfschützen ermordeten Demonstranten - unbewaffnete Menschen, die Freiheit und Korruptionsbekämpfung forderten. Aber dieser offene Hinweis, dass eine Systemänderung nötig ist, war wohl ihr Todesurteil.

Buthaina Shaaban, vertraute Beraterin des Präsidenten und freundliches Sprachrohr in heiklen Missionen meldet nun, dass Syrien "vor wichtigen Entscheidungen" stehe, die "den Sehnsüchten des Volkes Rechnung tragen werden" . Ja sogar, dass die Bevölkerung an der Entscheidungsfindung teilhaben werde. Allerdings sind dies Beteuerungen, die seit der Machtübernahme Bashar Al Assads von seinem Vater Hafez immer wieder zu hören waren: große Worte, der keinerlei Taten folgten. Der Unmut des Volkes ist daher verständlich.

Will der Präsident sein Amt behalten, wären umgehend Reformen einzuleiten:

1) Aufhebung des seit 1963 geltenden Ausnahmezustands. Denn unter diesem Deckmantel wird ein grausamer Geheimdienstapparat betrieben, für den Assads Bruder Maher und sein Schwager Asef Shaukat stehen;

2) Meinungs- und Pressefreiheit, Abschaffung von Folter und Freilassung der politischen Gefangenen, allen voran Minderjährige und Frauen;

3) Änderung der Verfassung von 1973, wobei vor allem jener Punkt gestrichen werden muss, der die Führungspositionen innerhalb des Staates und der Gesellschaft der arabischen sozialistischen Baath-Partei vorbehält;

4) Erlaubnis der Gründung von konkurrierenden politischen Parteien;

5) Streichung der Privilegien für die Mitglieder der Präsidentenfamilie, von denen vor allem Assads Cousin mütterlicherseits Rami Makhlouf profitiert: Ohne Arrangement mit dem 41-jährigen syrischen Oligarchen läuft bei größeren wirtschaftlichen Projekten in Syrien praktisch gar nichts.

Werden die Weichen für diese fünf Punkte noch in diesem Jahr glaubwürdig gestellt, ist Optimismus angebracht. Niemand wünscht sich eine Destabilisierung. Das weiß auch die syrische Regierung, die übers Staatsfernsehen vom Großmufti bis zum christlichen Patriarchen alle Meinungsmacher ins Rennen schickt, um ein Bild von "einigen vom Ausland gesteuerten Störenfrieden" zu zeichnen, dem die nationale Einheit entschlossen gegenüberstehe.

Bashar Al Assad müsste daran gelegen sein, seine Chancen zu nutzen. Denn auf Grund seiner Biographie gilt er als eine zivile Führungspersönlichkeit (er war Augenarzt, ehe er vom tödlich verunglückten älteren Bruder Basel die Erbprinzenrolle übernahm). Vor allem kann Assad für sich verbuchen, dass seine Außenpolitik von der Mehrheit der Bevölkerung ebenso geschätzt wird wie die ökonomische Stabilität und die niedrige Kriminalitätsrate.

Zu den positiven Aspekten gehört auch das säkulare, traditionell minderheitenfreundliche System: Angesichts der Vielfalt von ethnischen und religiösen Minderheiten, darunter auch vielfältige Ausprägungen innerhalb des Islams und des Christentums, besteht ein berechtigtes Interesse, diese Balance nicht aufs Spiel zu setzen.

Schließlich kommt dem Präsidenten auch die Schwäche der syrischen Opposition entgegen. Diese ist im Ausland schwach und im Inland unglaubwürdig. Das gilt sowohl für die Muslimbruderschaft als auch für die zwei Hauptgegner des Regimes im Ausland, die beide einen sehr schlechten Ruf haben: der frühere Außenminister und Vizepräsident Abdulhalim Khaddam und der Onkel des Präsidenten Rifaat Al Assad. Beide sind alte, korrupte ehemalige führende Personen des Systems, die auch heute noch nur ihre eigenen Interessen, aber nie die des Landes verfolgen.

Eine gewaltfreie Lösung muss das bestehende System von der Wurzel her reformieren. Keine religiösen und schon gar keine starr panarabistische Agenden sind gefragt, sondern eine glaubwürdige Politik für alle. Daher genießen Modelle wie in der Türkei Sympathie in Syrien. Wichtig ist, dass die EU und die Türkei gemeinsam assistierend wirken, weise und ohne starke Einmischung.

Diese Vision ist realistisch, ja sogar im Interesse des Präsidenten dringend notwendig. Die Umsetzung hängt aber ganz alleine von der syrischen Führung ab. Die berechtigten Anliegen als feindliche ausländische Manöver abzutun, wird jedenfalls nicht mehr durchgehen. (DER STANDARD, Printausgabe, 30.3.2011)