Über 20.000 Tote, Schäden in Höhe von 220 Mrd. Euro und eine noch immer nicht unter Kontrolle gebrachte Havarie mit Strahlungsleck im Atomkraftwerk von Fukushima: Dies ist die nüchterne Bilanz des schweren Erdbebens vor der japanischen Ostküste.
Ein seltenes Jahrhundertereignis? Nicht nach Meinung von Erdbebenexperten, die bereits die nächsten Beben ankündigen. Ausgerechnet zwei der bevölkerungsreichsten Gegenden des Westens sind in den nächsten Jahren von schweren Erschütterungen bedroht: In Europa ist es die aufstrebende Metropole Istanbul, deren neuer Reichtum auf tönernen Füßen steht. Und bei der wildwüchsigen Expansion der Stadt ist an Erdbebensicherheit überhaupt nicht zu denken; ein Großteil der errichteten Gebäude entstand praktisch über Nacht und ohne Baugenehmigung.
Man lebt in Hoffnung
Etwas anders ist die Lage an der Westküste der USA in Kalifornien: Zwar wurde hier weitgehend erdbebensicher gebaut - trotzdem wären die Auswirkungen eines Bebens von der Art des japanischen verheerend.
Wie gehen nun die Menschen in den betroffenen Gebieten mit der Erdbebengefahr um? Müsste man nicht erwarten, dass sie, von den Ereignissen in Japan medial in Kenntnis gesetzt, Gegenmaßnahmen ergreifen? Tatsächlich aber lebt man so weiter wie bisher in der Hoffnung, das Ereignis möge ausbleiben, die Katastrophe möge einen verschonen. Während man für Istanbul außerdem annehmen darf, dass ein großer Teil der Bevölkerung von der Gefahr gar nichts weiß, spricht man in Kalifornien bereits seit Jahren von der kommenden Katastrophe als the big one.
Offenbar gibt es unterschiedliche Weisen, mit drohender Gefahr umzugehen: So sehr man jedoch die Hysterie der Deutschen kritisieren muss, so wenig sollte man die scheinbare Todesverachtung der Türken und Amerikaner bewundern. Vielmehr erklärt diese sich aus zwei verschiedenen psychischen Quellen. Erstens einem Bewusstsein von Faktizität, das der Übermacht der Realität geschuldet ist: Die anderen sind hier, millionenfach, ich bin hier, wo mein Lebensmittelpunkt ist und meine Hoffnungen liegen. Eine Stadt ist fait accompli, man kann sie nicht verlegen oder ungeschehen machen - warum also vor einer Gefahr fliehen, die unsichtbar und unbestimmt, d.h. für die Wahrnehmung diffus ist?
Säkulare Todesverdrängung
Die zweite Quelle jener Gleichgültigkeit dem Tod gegenüber ist das ausgreifend säkulare Bewusstsein, dessen Todesverdrängung seit Kierkegaard und Heidegger in vielfachen Wendungen beschrieben worden ist. Was einzig zählt, ist das Leben im Hier und Jetzt, und das Wissen vom jederzeit möglichen Ende führt gerade nicht dazu, sein Leben um jeden Preis erhalten zu wollen, sondern dazu, es möglichst bis zur Neige auszukosten. Der Tod der anderen ist allgegenwärtig, aber er tangiert mich nicht, solange ich selbst lebe - so gesehen ist das Erdbeben qualitativ nichts anderes als die alltäglichen Tode der anderen, die bei Unfällen, Familiendramen oder durch Krankheiten ums Leben kommen. Nur der eigene Tod ist das, was man sich ohne Weiteres nicht vorstellen kann.
Sind also die wahrscheinlichen Erdbeben von Istanbul und Kalifornien Damoklesschwertern zu vergleichen, die über hedonistisch veranlagten Massen schweben? In gewissem Sinn haben wir es hier mit einer Umkehrung von Heilsgewissheit zu tun: Statt einer Abwertung der irdischen Zeit im Lichte der Erlösung, führt die durch Erdbebenangst verstärkte, diffuse Todesgewissheit der Insassen der Risikogesellschaft zu einer Belebung der Existenz im Zeichen von Gewohnheit und Trotz. (derStandard.at, 30.3.2011)