Als Sonia Pierre 13 Jahre alt war, ermutigte die Tochter haitianischer Einwanderer in der Dominikanischen Republik die ArbeiterInnen der Zuckerrohrplantagen ihrer Siedlung, gegen die schlechten Wohn- und Arbeitsbedingungen zu streiken. Die Idee sprach sich herum, schließlich protestierten alle ZuckerrohrschneiderInnen der benachbarten Dörfer, und die junge Sonia, die als Sprecherin der ArbeiterInnen auftrat, wurde kurzerhand inhaftiert.
So angstbeladen dieser Einschnitt in ihrem Leben auch war, so stark machte er Sonia Pierre für die Zukunft, denn diese Erfahrung war erst der Anfang ihres Engagements gegen Ungerechtigkeit und Menschenrechtsverletzungen in der Dominikanischen Republik. "Lange Zeit wusste niemand, unter welchen Bedingungen die Menschen in den Zuckerrohrplantagen arbeiten mussten, damit wir auf der ganzen Welt dominikanischen Zucker essen können," sagt die Menschenrechtsaktivistin im Gespräch mit daStandard.at.
Insel Hispaniola: Einzelfall in der Karibik
"Es ist ein historischer Konflikt", so Pierre zu den Wurzeln der Migrationsproblematik auf der Insel Hispaniola. "Haiti und die Dominikanische Republik teilen sich eine Insel und das ist ein Einzelfall in der Karibik. Ein Teil der Insel wurde von den Franzosen kolonisiert, der andere von den Spaniern." Das führte im Laufe der Zeit zu einer gespaltenen Entwicklung der Insel und zu vielen Ungleichheiten.
Das einst sehr reiche Land Haiti wurde zu einem der ärmsten der Welt. Die Folge: Viele HaitianerInnen migrierten ins Nachbarland, um Arbeit zu finden und fristen ihr Leben oft nach wie vor in "bateyes", den Arbeitersiedlungen in den Zuckerrohrplantagen, die vom Rest der dominikanischen Gesellschaft völlig abgeschnitten sind. Das Erdbeben im letzten Jahr löste erneut eine große Migrationswelle aus - sowohl in die Dominikanische Republik, aber auch innerhalb Haitis - denn viele Menschen haben neben ihrer materiellen Existenz auch ihre Perspektiven in der Heimat verloren.
Empowerment, Aufklärung und Bildung
Genau diesen Menschen, allen voran Frauen und Kindern, widmet sich die Arbeit der Menschenrechtsorganisation "Movimiento de Mujeres Domínico-Haitiana" - kurz MUDHA. Seit mehr als 20 Jahren kämpft Gründerin Sonia Pierre für die bürgerlichen, politischen und sozialen Rechte der dominiko-haitianischen Frauen sowie gegen die Diskriminierung von MigrantInnen.
MUDHA leistet vor allem Empowerment-Arbeit: Es werden Workshops, Aufklärungs-, Gesundheits- und Bildungsprogramme in den Siedlungen der MigrantInnen initiiert. Die Schwerpunkte liegen einerseits in der Arbeit mit Frauen und Mädchen, die über sexuelle Rechte, gesundheitliche Fragen und Ausbildungsmöglichkeiten informiert werden, andererseits im Kampf um den Zugang zu staatsbürgerlichen Rechten.
Keine Grundrechte für "Staatenlose"
Aktuell richtet sich die Arbeit von Sonia Pierre stark auf die Kinder von haitianischen Einwanderern, die in der Dominikanischen Republik geboren wurden und dennoch "staatenlos" sind. Wenn die Eltern illegal ins Land gekommen sind, bekommen deren Kinder oft keine Geburtsurkunden und somit auch keine Chance auf die Staatsbürgerschaft. Den betroffenen "Staatenlosen" bleiben somit ohne Papiere auch viele Grundrechte verwehrt: Zugang zum Gesundheitssystem, Bildung oder gesicherte Wohn- und Arbeitsverhältnisse.
Als Haitianer oder Haitianerin in der Dominikanischen Republik eine legale Aufenthaltserlaubnis zu bekommen, sei fast unmöglich. Neben einer Reihe an bürokratischer Erfordernisse werden zudem 3500 Dollar verrechnet. "Um eine solche Summe anzusparen, müsste eine Person ungefähr fünf bis sechs Jahre arbeiten und dabei aber kein Geld ausgeben, auch nicht für Essen und dergleichen", erklärt Pierre. "Die Situation der Haitianer in der Dominikanischen Republik wird auf jeden Fall immer schwieriger."
Personen ohne Vornamen
Die meisten Menschen, die vor vielen Jahrzehnten von Haiti in die Dominikanische Republik gekommen sind und seitdem in den "bateyes" leben, bleiben im Sprachgebrauch der dominikanischen Bevölkerung illegale Einwanderer. "Wenn es etwa in einer Nachrichtenmeldung heißt 'Ein illegaler Haitianer starb durch die Hand eines Dominikaners' werden ihm mit dieser Bezeichnung sofort alle Reche genommen," kritisiert Pierre. "Die Person hat keinen Vornamen, und der Nachname lautet immer 'Illegal'."
Haitianische Kinder als Hausangestellte
Auch im täglichen Leben spiegle sich die Ungleichheit und Ausbeutung der haitianischen MigrantInnen wider: "Viele dominikanische Familien haben heutzutage ein haitianisches Kind in ihrem Haus. Aber nicht als Sohn oder Tochter, sondern als Hausangestellte", so Pierre. "Das ist mittlerweile sehr verbreitet. Was auch verstärkt vorkommt, ist die Prostitution von Kindern."
Momentan wird immer wieder angezeigt, dass Kinder und Jugendliche in den Touristenzonen prostituiert und sexuell ausgebeutet werden. Von Seiten des Staats würden die Haitianer nicht selten für diverse Krisen im Land verantwortlich gemacht. Das schüre die Xenophobie - des öfteren werden Häuser von Haitianern angezündet, erläutert Pierre weiter.
Vermeintliche Grenzöffnung
Nach dem Erdbeben in Haiti vor einem Jahr gab es viele Solidaritätsbekundungen von Seiten der Dominikanischen Republik, was auf eine positive Entwicklung in der Zukunft hoffen lässt. Allerdings stellte sich nicht jede Hilfeleistung als ehrliche heraus: "Nach dem Erdbeben wurde die Grenze geöffnet und die haitianischen MigrantenInnen wurden eingeladen, ihre Familien in Haiti zu besuchen", so Pierre. "Die Menschen wussten aber nicht, dass die Grenze wieder geschlossen wird. Viele konnten dann nicht mehr zurück. Das sind sehr inhumane Taktiken."
Hier Haitianerin, dort Dominikanerin
Wenn Sonia Pierre gefragt wird, aus welchem Land sie kommt, weiß sie nie, was sie antworten soll. Eigentlich ist sie Dominikanerin, ist dort geboren und hat ihr ganzes Leben in dem Land verbracht. Doch ihre Herkunft Haiti kann und will sie nicht leugnen. "In Haiti sprechen sie über uns als Dominikaner, in der Dominikanischen Republik werde ich als Haitianerin gesehen. Auf diese Weise wissen wir nicht, woher wir sind und wer wir sind", meint Pierre. "Für mich persönlich ist es aber egal - man kann mich Haitianerin, Dominikanerin oder einfach Bürgerin dieser Welt nennen." (Jasmin Al-Kattib, daStandard.at, 30. März 2011)