Jeder von uns hat modische Leichen im Keller. Ob es die Stonewashed-Jeans (besonders gerne mit dem Stonewashed-Jeanshemd und der Stonewashed-Jeansjacke kombiniert), die popelgelben Buffalos oder die wildkarierte Latzhose mit peppigen Patches in gegensätzlich kariertem Muster war: Wir haben sie alle getragen.

Wir haben gespart, gebettelt, gejobt und geklaut um uns freien Willens, getragen von maximalem Gruppenzwang, in nabelhohe Levis 501 zu quetschen, deren Taillenband, wenn nicht ohnehin abgeschnitten, gerade genug Raum für ein hinein gestopftes Only-the-Brave-Diesel-T-Shirt ließ (das ich übrigens so gerne wieder hätte). An der Hand und für die ganz schlimmen Fälle auch ins Haar geknüpft baumelten filzige Freundschaftsbändchen und die Zeit verriet einem die Baby-G am Handgelenk.

Für erfahrene Modesünder aus den Achtzigern hört sich das zwar wie Kinderkram an, aber ich schäme mich noch immer für meinen blauen Samthut.

Das Maß aller Mode

Heute habe ich das Gefühl, die Mode habe sich langsam auf ein akzeptables Maß an Stillosigkeit eingependelt. Manche Berlin-Mitte-Kostüme bestätigen zwar die Regel, aber zu allermindest scheinen Dinge wie die Dauerwelle (abgesehen von Nickelbags Sänger) und der Vokuhila endlich besiegt.

Der maßvolle Umgang mit unserer Bekleidung scheint aber in der Musik nicht angekommen zu sein. Sofern man mit maßvoll nicht meint, Stoff in Zusammenhang mit derselbigen nur in (sehr geringen) Maßen zu verwenden. Lady Gaga hat auf diese Weise immerhin gerade dem Gerücht, sie habe einen Penis, den Gar ausgemacht.

Auch an Beyonces "Kleidern" scheint Mutti Knowles den ein oder anderen Saum eingespart zu haben.

Pink, die nebst einem Talent zur grauenhaften pseudy tiefgründigem Pop-Punk-Rock tatsächlich eigentlich eine gute Stimme hat, sollte sich zu ernsthafter Musik zwingen, anstatt sich in hautfarbene Ganzkörperschläuche zu zwängen

Googelt man die Worte "stage clothes" kommt gleich zu aller oberst eine Website zur Bühnenausstattung mit dem catchy Werbespruch "Because They See You Before They Hear You"- Ich bin mir nicht immer sicher, welche Reihenfolge die bessere wäre. Sieht man Bill Kaulitz, bevor er zu singen beginnt, möchte man ebenso wegrennen, wie in dem Moment, in dem er den Mund öffnet.

Aber was man ihm lassen muss: Er bringt nicht nur hallenweise 14-Jährige zum kollabieren, sondern all diese schreienden oder bewusstlosen kleinen Menschen wollen ihn. Der seltsam nerdige Punk, dem eben noch in der Schule der Ranzen gemopst wurde, kann sich nun vor „Willst du mit mir gehen"-Angeboten kaum retten. Nach wie vor will die halbe deutsche Teenie- Landschaft ihre Unschuld an das zottelige Klappergestell verlieren.

Immer wieder fasziniert mich auch Erlend Øye, Frontmann von The Whitest Boy Alive, Kings Of Convinience und zig anderen Musikprojekten. In seiner riesigen Windjacke, seinen dicken Brillengläsern und dünnen Beinchen ist er garantiert beim Völkerball immer als letztes gewählt worden. Heute steht er vor tausenden Fans auf der Bühne und den anwesenden Damen springt der BH von selbst auf- nicht zuletzt wegen des riesigen unsichtbaren "L" auf seiner Stirn.
Nerd hat Tradition

Schon die Beatles und selbst die Rolling Stones hatten diesen Flair erotischer Geekigkeit. Aber diese Erscheinung war nicht weniger berechnet als die knallbunten Sergeant Peppers Uniformen oder die Lederhosen der Stones. Absurde Bühnenoutfit und Selbstinszenierung gehören zur Musik wie sie selbst.

Was wäre Elvis ohne sein weißes Schlaghosendingsbums mit Glitzer und Fransen? Was wäre Elton John ohne seine lächerlichen Brillen und Freddy Mercury ohne seinen bauchnabelfreien Schachmuster- Body? Auch Kiss und Bootsy Collins will doch niemand in Hemd und Jeans sehen.

Einer meiner großen Favouriten, nicht nur musikalisch sondern auch seiner Outfits wegen, war schon immer David Bowie. Das sogenannte Pop-Chamäleon wechselte vom androgynen Punklook über Einflüsse des japanischen Pantomimentheaters und Travestie-Outfits hin zu Anzug und Krawatte. Falco hätte unter seinen Schulterpolstern halb Libyen Unterschlupf gewähren können und jeder Mensch denkt bei ACDC an Schuluniformen, obwohl nur Gitarrist Angus Young Shorts salonfähig gemacht hat.

Bühnen- aber sicherlich nicht salonfähig war Antony Kiedis' legendärstes Outfit. Wie er auch später bis auf eine Tennissocke nackt auf die Bühne. Seine Füße waren zu sehen und ich bin mir ziemlich sicher, dass das Lady Gaga nicht kann. (derStandard.at, 31.3.2011)