Maria Lipman

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Fast wie im wirklichen Leben: Werbeposter für eine seit kurzem in den russischen Kinos laufende Filmromanze, die den Zuschauern auf berührende Weise Putins Aufstieg vom kleinen KGB-Agenten zum Ministerpräsidenten an der Seite seiner Ehefrau Ludmilla nahebringt.

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Die russische Regierung sitzt fest im Sattel und ist noch immer mit schlechter Leistung, Ineffizienz, Korruption und verbreiteter Verletzung von politischen Rechten und Bürgerrechten davongekommen. Umfragen belegen immer wieder, dass sich das russische Volk nichts vormachen lässt: Es antwortet routinemäßig, dass Staatsbeamte korrupt und eigennützig sind. Einer Umfrage zufolge, die im vergangenen Sommer durchgeführt wurde, glauben mehr als 80 Prozent der Russen, dass "sich viele Beamte praktisch über das Gesetz hinwegsetzen".

Und doch genießt Ministerpräsident Putin, immer noch Russlands mächtigster Mann, obwohl er nicht mehr Präsident ist, regelmäßig über die Jahre einen hohen Grad der Zustimmung. Eine geringe Abnahme Anfang 2011 war möglicherweise Ausdruck der Frustration über soziale Ungerechtigkeiten und eines wachsenden Gefühls der Unsicherheit und Ungewissheit in Bezug auf die Zukunft. Trotzdem, ungefähr 70 Prozent der Befragten einer Umfrage im Februar antworteten, dass sie Putins Arbeit zustimmten. Die Zustimmungsquoten für Präsident Medwedew liegen nur geringfügig darunter.

Von diesem hohen Akzeptanzgrad der beiden führenden russischen Politiker darf man allerdings nicht auf eine rationale Bevorzugung der Amtsinhaber gegenüber möglichen Herausforderern schließen. Der politische Wettbewerb in Russland ist bedeutungslos geworden, Vergleich und Wahl gehören daher nicht zum Instrumentarium der politischen Linken. Diese Umfragewerte spiegeln eher eine Befürwortung des Status quo wider. Eine politische Wende wird zurzeit nicht gewünscht, trotz Terrorangriffen, technologischen Katastrophen, gesetzloser Polizei oder manipulierten Wahlen.

Politische Entfremdung

Seitdem Putin an der Macht ist, demontiert der Kreml die repräsentativen Institutionen immer mehr und entfernt damit die Bürger immer weiter von der Entscheidungssouveränität. Die Gouverneurswahlen wurden vor sechs Jahren abgeschafft und sogar gewählte Bürgermeister werden immer mehr von bestellten Beamten ersetzt. Umfragen zufolge glauben 80 Prozent der Russen, dass sie keinerlei Einfluss auf nationale oder sogar regionale Angelegenheiten haben.

Dieses System der politischen Entfremdung wird von einer überwältigenden Mehrheit der Russen akzeptiert. Sowohl die Massen als auch die privilegierten Schichten zeigen keinerlei Interesse an einer politischen Partizipation. Die Opposition kann nicht auf öffentliche Unterstützung rechnen, was es der Regierung leicht macht, sie zu unterdrücken.

Angesichts fehlender politischer Partizipation ist es der Regierung ein Leichtes, die Gesellschaft zu deckeln. Die alte russische Ordnung - hier der dominante Staat und dort eine ohnmächtige, zerstückelte Gesellschaft - ist größtenteils intakt geblieben.

Im zwanzigsten Jahrhundert war der allmächtige russische Staat zweimal geschwächt: zu Beginn des Jahrhunderts, als das russische Reich kollabierte, und am Ende, als die UdSSR zusammenbrach. In beiden Fällen wurde jedoch das traditionelle System staatlicher Dominanz schnell wieder hergestellt.

Beziehungsmodell

Obwohl die Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft in Russland einem traditionellen Muster folgen, wurden sie durch unterschiedliche Führungsstile auf unterschiedliche Art und Weise geprägt. Stalins Herrschaft kann man mit der eines grausamen, sadistischen Vaters vergleichen, der seine Kinder in einem Zustand der Angst und Unterwerfung hält. Breschnews Beziehung zu seinem Volk ähnelte eher einer schlechten Ehe, in der es schon lange keine Liebe und keinen Respekt mehr gab und in der die Ehepartner sich ständig betrügen, übervorteilen und gegenseitig bestehlen, obwohl der mächtigere Ehemann seine Frau beständig daran erinnert, dass er der Boss ist und dass sie zumindest den äußeren Anschein der Treue wahren muss, sonst...

Im Vergleich zu diesen beiden Modellen gleicht Putins Version der Beziehung zwischen Staat und Gesellschaft eher einer Scheidung oder zumindest einer Trennung: Jede Seite geht ihren eigenen Geschäften nach und mischt sich nicht in die Angelegenheiten der anderen ein.

Am besten lässt sich dieses Verhältnis wohl als Nicht-Einmischungs-Pakt definieren. Der Kreml hat vielleicht ein Monopol auf die Entscheidungsgewalt, aber er drängt sich nicht auf und ermöglicht es den Bürgern, ihr Leben zu leben und ihre eigenen Interessen zu verfolgen - solange sie nicht in die Sphäre des Staates eindringen.

Anders als in der UdSSR, in der es zu massiven Übergriffen auf das Privatleben der Bürger kam, genießen die Russen heute fast unbegrenzte Freiheiten. Die Nicht-Einmischung der Regierung wird von den Menschen anerkannt: sie widmen sich eifrig ihrem Privatleben - und kümmern sich nicht um politische Angelegenheiten, die sie willentlich aufgegeben haben.

Trotzdem haben die vergangenen zwanzig Jahre großer persönlicher Freiheiten und eingeschränkter Bürgerrechte einen Wandel in der russischen Gesellschaft herbeigeführt - wenn nicht allgemein, so doch sicher in bestimmten gesellschaftlichen Gruppen.

Die Russen haben nämlich Fähigkeiten im Organisieren und im Aufbauen von Netzwerken erworben. Die Nutzung sozialer Netzwerke im Internet zum Beispiel wächst schneller als in jedem anderen europäischen Land und hat auch dazu beigetragen, so etwas wie einen öffentlichen Raum zu schaffen, in dem die russische Bloggerszene oft der Ort ist, an dem sich der Zorn über soziale Ungerechtigkeit, unverdiente Privilegien, Gesetzeslosigkeit und Straffreiheit der Polizei Luft macht.

Sozioökonomische Proteste sind auch ein Merkmal des russischen Lebens geworden, besonders während der Wirtschaftskrise. Anders als politische Gruppen, die sehr beschränkte öffentliche Unterstützung erfahren, haben sozioökonomische Forderungen tausende von Menschen in verschiedenen Teilen des Landes zusammen gebracht.

Kaum Protest

In großen Städten ist zudem eine neue urbane Schicht im Entstehen begriffen - fortschrittliche und moderne Russen mit professioneller Ausrichtung, die sich in der globalisierten Welt wohl fühlen. Es ist hauptsächlich dieser Gruppe zu verdanken, dass in den letzten Jahren ein privates Wohlfahrtssystem entstanden ist.

Aber trotz der Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung entstehen kaum Gemeinschaften und Aktionismus. An der Dominanz des Staates gegenüber der Gesellschaft ändert sich nichts. Trotz des jüngsten Anstiegs einer negativen öffentlichen Stimmung bleib der Protest in Umfang und Forderungen fragmentiert und ausnahmslos lokal.

Im Moment zumindest haben das provinzielle Russland und die neue urbane Klasse Putins Nicht-Einmischungs-Pakt akzeptiert. Sollte es eine neue Wendung geben, werden kritisch eingestellte und gut informierte urbane Leistungsträger sogar diejenigen sein, die es endgültig vorziehen, in die Nicht-Einmischung zu emigrieren. In der aktuellen politischen Debatte nutzen die aufgeklärtesten Russen ihre Fähigkeiten und Talente lieber zu Zwecken der Selbstverwirklichung im Ausland und nicht als Antriebskraft für eine Modernisierung des Landes.