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Im Oktober 2010 wurde die Stadt Devecser besonders hart vom Giftschlamm getroffen.

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Judith V. vor dem vom Schlamm gezeichneten Haus ihrer besten Freundin. In wenigen Wochen wird es abgerissen.

Foto: Standard/Gudrun Springer

Devecser - Bagger dröhnen, Wände zerfallen krachend in ihre Einzelteile, Staub steigt auf. Die 5200-Einwohner-Stadt Devecser wird amputiert. Für die Operation ist schweres Gerät aufgefahren. Gerade hat wieder jemand sein Zuhause verloren. Doch was jetzt in einzelne Ziegel und Balken zerfallen ist, war schon monatelang kein Heim mehr. Am 4. April ist es ein halbes Jahr her, dass ein Speicherbecken der nahen Aluminiumfabrik der Firma Mal AG in Ajka zerbarst, rund 700.000 Kubikmeter giftiger Rotschlamm fraßen sich wie ein Geschwür in die Straßen und quollen auf die Äcker.

Entlang von Zäunen, Autos, Türstöcken und Baumstämmen hat die Masse eine rostrote Spur gezogen. 263 Häuser werden allein in Devecser im westungarischen Komitat Veszprém dem Erdboden gleichgemacht. Im Nachbarort Kolontár sind es noch mehr. Insgesamt verwüstete die rote Masse rund 40 Quadratkilometer Land. Bei dem Unglück starben zehn Menschen, etwa 150 wurden verletzt.

Arbeitsplatz ist Arbeitsplatz

Im Nordwestteil Devecsers kündigen auf sämtliche Fassaden gesprayte Zahlen deren baldigen Abriss an. "31/33" heißt es auf jenem Haus, in dem Judith V.s beste Freundin gewohnt hat. Die 17-Jährige senkt den Kopf, als sie durch den Torbogen in den Garten tritt - oder was übrigblieb von dem Hof, in dem sie früher mit Erika gespielt hat, die jetzt mit ihrer Mutter in der Stadt Ajka lebt. Höher als hüfthoch stand der Schlamm. In wenigen Wochen wird das Haus abgerissen.

Judith erzählt, dass ihr Freund in der Unglücksfabrik arbeitet. "Er ist vor allem mit der Stabilisierung des Damms beschäftigt", sagt das Mädchen. Sie habe ständig Angst um ihn. Aber ein Arbeitsplatz ist ein Arbeitsplatz.

Wo derzeit der vom Unglück schwer gezeichnete Ortsteil plattgewalzt wird, sollen ein Sportplatz und eine Gedenkstätte entstehen. Die Leute sollen in Mietwohnungen ziehen, zu Freunden, Verwandten oder in Wohnhäuser, die der Staat errichtet. Doch manche Menschen wollen gar nicht mehr hier leben. Der zu rotem Staub getrocknete quecksilber- und arsenhaltige Schlamm verunsichert sie. Nach Angaben von Greenpeace sind die Feinstaubmesswerte nicht alarmierend, auch das Trinkwasser ist sicher. Die Kontamination der Böden bereite aber noch Sorgen.

"Der Ort ist tot"

Die Masse ist auch Gift für die Stimmung unter den Menschen. "Der Ort ist tot", sagt ein Rauchfangkehrer. Eine Verkäuferin missgönnt ihren Nachbarn das Geld, das sie für ihre beschädigten Häuser erhalten. "Viele Leute werden reicher durch die Katastrophe", sagt sie. Rund 1,7 Milliarden Forint (6,4 Mio. Euro) sind nach Gemeindeangaben aus internationalen Spenden für den Ort zusammengekommen.

In die Zukunft wagen viele aber nicht zu blicken. "Menschen, die früher fröhlich waren, glauben nicht mehr daran, dass es besser wird", erzählt Tamás Toldi, Bürgermeister von Devecser. Der Ort lebt vorrangig von Landwirtschaft und Tourismus. Dutzende Felder und den guten Ruf als Ausflugsziel hat der Schlamm nachhaltig zerstört. Toldi versucht dennoch positiv zu denken. Der 59-Jährige trat am 4. Oktober 2010 um Punkt 12 Uhr das Bürgermeisteramt an. 43 Minuten später erreichte die Schlammwelle seinen Ort. "Am Anfang haben alle geholfen - das Heer, das Ausland - aber um die Menschen musste man sich selbst kümmern", sagt er. Die Schlammkatastrophe habe alles verändert.

"Wie geht es weiter?"

Die Mal AG muss sich wegen des Unglücks vor Gericht verantworten. Medienberichten zufolge könnte der Firma eine Strafe in der Höhe von rund zehn Milliarden Forint (37,6 Mio. Euro) drohen.

Die vier Jahre Arbeit, die Nagy Nándor als Fabriksleiter in den Aufbau einer Chipsfabrik investiert hat, wird ihm keiner zurückgeben können. Der 29-Jährige war gerade auf dem Weg zur Arbeit, als er die rote Masse auf das Werk zurollen sah. "Ich hatte keine Ahnung, was das ist", sagt er. Er rannte in die Werkshalle, warnte seine Mitarbeiter und floh mit ihnen auf eine Böschung.

Eineinhalb Meter hoch stieg der Schlamm dort, wo früher Knabberzeug vom Fließband kam. Als Nagy später das Hallentor öffnete, rann die Masse vier Stunden lang heraus. "Ich war froh, dass ich überlebt hatte", sagt er. Doch nach der Erleichterung kamen die Fragen: "Wie geht es weiter? Kann man das wieder aufbauen?" Die Fragen blieben. Hartnäckig. Wie die Spuren des roten Schlamms. (Gudrun Springer, DER STANDARD-Printausgabe, 2.4.2011)