Wien - Zehn Österreicher sind dem wochenlangen Kidnapping durch Geiselnehmer in Algerien entkommen.

Einige von ihnen - nicht alle - werden wohl mit psychischen Konsequenzen zu kämpfen haben. "Eine seelische Verwundung kann genau so in Phasen ablaufen wie eine körperliche Wunde. Seelische Verwunden haben nur eine schlimme Eigenschaft: Sie sind nicht sichtbar", sagte am Mittwoch Dr. Stephan Rudas, Leiter des Instituts für psychosoziale Forschung in Wien, gegenüber der APA. Univ.-Prof. Siegfried Kasper von der Universitätsklinik für Psychiatrie am Wiener AKH betonte den Vorrang therapeutischer Gespräche. Im Bedarfsfall könnten in der Behandlung Medikamente hinzu kommen.

Seelische Verwundungen können symptomlos sein

Was die Hilfe für Kidnapping-Opfer laut Rudas, Psychoanalytiker und Psychiater, schwierig machen kann: "Besonders in der Anfangsphase muss man aufpassen. Seelische Verwundungen können symptomlos sein. Manche Menschen brauchen eine gewisse Zeit, bis sie eine solche Verwundung ausdrücken können."

Aurtreten der Symptome können Jahre dauern

Dann folgt eine zweite Phase, bei denen psychische Verdrängungsmechanismen eine Rolle spielen. Der Wiener Experte: "Schließlich kann es zur dritten Phase mit der Wiederkehr des Verdrängten kommen. Das ist gefährlich." Depressionen, Angststörungen und Suizidgefahr können auftreten - weiters auch schwere Schlafstörungen, die weitere psychosomatische Schädigungen nach sich ziehen können. Bis zum Auftreten dieser Symptome können sogar Jahre vergehen.

Belastung ist sehr unterschiedlich

Bei weitem nicht alle Menschen geraten in eine solche posttraumatische Belastungsreaktion hinein. Univ.-Prof. Dr. Siegfried Kasper, Leiter der Klinischen Abteilung für Allgemeine Psychiatrie am Wiener AKH: "Zahlenmäßig dürften etwa 20 Prozent der Betroffenen solche Beschwerden entwickeln. Oft kommt es dabei auch auf etwaige Vortraumatisierungen an."

Vedrängung

Beide Experten betonten, dass am Beginn jeder Hilfe das Gespräch zu stehen hat. Rudas: "Dazu ist ist in Phase I und Phase II Zeit. Das ist das, was man 'debriefing' nennt. Man unterstützt den Betroffenen, seine Erlebnisse aufzuarbeiten. Sonst bleibt etwas übrig, was verdrängt wird und später wieder auftauchen kann.

Kasper: "In den ersten 14 Tagen bis drei Wochen sollte das Gespräch im Vordergrund der Hilfe stehen. Schlafstörungen würde ich aber auch von Beginn an mit Medikamenten behandeln. Wenn nach zwei bis drei Wochen keine wesentliche Besserung eintritt, sollte man wahrscheinlich mit einem so genannten selektiven Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer (SSRI, Anm.) beginnen."

Short-Cut

Der Hintergrund: Durch traumatische Erlebnisse ist das Nerven-Botenstoff-System rund um die Substanz Serotonin übersensibel geworden und reagiert zu stark. Kasper: "Eindrücke kommen zunächst in die Thalamus-Gehirnregion und werden dann in die Gehirnrinde verschaltet und sozusagen mit Sinn versehen. Gleichzeitig kommt es aber zu einem 'Short-Cut' im so genannten impliziten Gedächtnis. Das führt dazu, dass jemand bei einem harmlosen Knall zum Beispiel sofort wieder an Schüsse denken muss und Angstreaktionen einsetzen." Diesen überreagierenden "Kurzschluss" können die auch antidepressiv wirkenden Medikamente dämpfen helfen. Laut dem Psychiater sollte dann aber ein halbes Jahr bis ein Jahr lang damit behandelt werden.

Trauma

Doch Hilfe kann nur kommen, wenn sie auch angenommen wird. Rudas: "Es stellt sich leider die Problematik, dass Betroffene oft eine Haltung entwickeln, dass die Annahme psychologischer Hilfe ein Zeichen der Schwäche wäre. Das stimmt nicht. Niemand würde Hilfe zur Versorgung einer blutenden Wunde ablehnen. Niemand sollte zur psychologischen Hilfe sagen 'Das brauch ich nicht, ich bin kein Schwächling'."

Zumindest vorsichtig auf mögliche Probleme überprüft werden sollten aber alle potenziell Traumatisierten. Rudas: "Auch nach einem Busunfall würde sich der Notarzt neben den offensichtlich Schwerverletzten auch alle anderen Beteiligten zumindest anschauen, um Nichts zu übersehen." (APA)