Michael Fleischhacker wird sich ärgern, dass das nicht ihm eingefallen ist: Zu erwarten, dass ein Politiker als Vorbild familiärer Moral auftritt, erachte ich als schädlich für die gesamte politische Sphäre. Die "Wiener Zeitung" war es, die sich am Wochenende Rat für die Bewertung von Ernst Strassers Lobbying-Affäre geholt und beim Philosophen Rudolf Burger gefunden hat. Dass familiäre Moral ein Schaden für die gesamte politische Sphäre sein könnte, ist ein bestechender Gedanke für alle, die es nicht so mit der Verherrlichung der Familie haben, und er wäre noch viel bestechender, würde er auch begründet statt nur in diffuser Form wiederholt: Wenn das politische Handeln an familiären Maßstäben gemessen wird, dann wird diese Moralisierung selbst zu einer politischen Kategorie. Und das hält Burger für gefährlich, auch wenn er partout nicht verrät, warum.

Auf welche Beckmesser, die politisches Handeln an familiären Maßstäben messen, Burger zielt, ist schwer zu fassen. Für den philosophischen Laien lägen die Mitglieder der Familie Pröll nahe. Aber in so hohe politische Sphären wagt nicht einmal ein Philosoph hinaufzulangen, der dankenswerterweise noch immer die politische Moral aufbringt, sich mit einer brennenden Zigarette in der Hand abbilden zu lassen, damit aber die Aufnahmebereitschaft für seine Botschaft dort zu gefährden, wo das politische Handeln an familiären Maßstäben gemessen wird.

Nein, statt der Familie Pröll aus Radlbrunn fällt Burger ein viel näher liegendes Beispiel ein, den Fall Strasser als Kollision zwischen familiärer Moral und Staatsräson abzuhandeln, nämlich die Atriden-Familie aus Mykenä. Agamemnon, König von Mykene, opfert seine Tochter Iphigenie, um von den Göttern günstige Winde für die Fahrt nach Troja zu erhalten. Aus der Sicht familiärer Moral ein schweres Verbrechen, als König jedoch handelt er aus Staatsräson. Konsequenterweise wird er nach der Rückkehr von seiner Frau Klytämnestra ermordet, woraufhin diese wiederum von ihrem Sohn Orestes getötet wird, eben weil dieser der Sohn des Königs ist. Diese Sage zeigt den unlösbaren Konflikt zwischen familiären und politischen Moralvorstellungen.

Warum es Staatsräson gewesen sein sollte, für die Heimholung der entführten Helena, die ja nur das göttliche Preisgeld für das Urteil des Paris zugunsten Aphrodites war, Iphigenie zu opfern, bleibt dunkel. Im Gegenteil, keinen Staat hätte es gestört, und Helena womöglich auch nicht, wäre sie bei Paris verblieben, und bis heute würde es niemand für einen späten Triumph der familiären Moral über die Staatsräson halten, sich in der Folge von seiner Frau ermorden zu lassen.

Für den Leser, der sich jetzt vielleicht schwertut, die Kurve von Agamemnon zu Strasser zu kratzen - ein Schicksal, das er übrigens mit dem Philosophen teilt -, sei nur der Ordnung halber auf die bedauerliche Schwäche bei Homer hingewiesen, dass der Sänger mit dem Prinzip der Unschuldsvermutung noch nichts anzufangen wusste. Geschickt ins Spiel gebracht und Paris als tumbes Opfer einer letztlich im Olymp vom Zaun gebrochenen Intrige unter Damen dargestellt, wäre dem Atriden der ganze Aufwand in Troja vielleicht ebenso erspart geblieben wie das Schicksal, in der "Wiener Zeitung" mit einem VP-Delegationsleiter im EU-Parlament zwecks Klärung des Gegensatzes Staatsräson vs. familiärer Moral in Verbindung gebracht zu werden.

Egal, diese Sage zeigt den unlösbaren Konflikt zwischen familiären und politischen Moralvorstellungen. Ob dieser Konflikt auch die Bewertung des Falles Strasser prägt, muss fraglich bleiben, sind doch die familiären und erst recht die politischen Moralvorstellungen des ehemaligen Innenministers weitgehend unbekannt, und auch Burger kann uns dazu nichts sagen, außer: Dass sich ein Politiker in seiner Privatsphäre genauso an die Gesetze und Regeln familiärer Sittlichkeit halten soll wie jeder andere auch, ist eine Selbstverständlichkeit. Nur: Wo genau verläuft bei einem Politiker die Grenze? Fällt die Untermauerung familiärer Sittlichkeit durch Bereitschaft zur Korruption unter Staatsräson oder Privatsphäre?

Zum Glück ist der Konflikt in der Gegenwart nicht gar so unlösbar wie in der Antike, was die rasche Abberufung Strassers durch den ÖVP-Obmann beweist. Aber das wird doch nicht etwa einer der Fälle sein, in denen die familiäre Moral das politische Denken bestimmt! Das fände Burger unerfreulich, und wo kämen wir hin, wenn so etwas einreißt? (Günter Traxler, DER STANDARD, Printausgabe, 5.4.2011)