Am jetzt zu Ende gehenden Prozess gegen die 13 von Wiener Neustadt lässt sich viel kritisieren: die Anklage, die zum Teil überzogen, ja konstruiert schien; die Tatsache, dass Angeklagte durch einen Monsterprozess allein und die damit verbundenen Kosten schon bestraft werden, bevor überhaupt ein Urteil gesprochen ist (selbst wenn sie freigesprochen werden, ersetzt ihnen niemand ihre teils immensen Verteidigerkosten); die Vorgangsweise der Polizei, die im Vorfeld des Prozesses wesentliches (aus Sicht der Verteidigung entlastendes) Material nicht in den Akt aufgenommen hat (woanders gibt es dafür den hässlichen Namen Prozessbetrug). Den unangenehmen haut-gout, dass sich eine Bekleidungskette ein Strafverfahren bestellt und prompt bekommen hat, ist dieser Prozess bis zum Ende auch nicht losgeworden.

Kritik an Richterin geht fehl

Am häufigsten freilich wurde zuletzt die Richterin dieses Prozesses, Sonja Arleth, kritisiert, doch just diese Kritik geht zum Teil fehl. Sonja Arleth hatte nämlich in Wahrheit zwei Rollen zu spielen, die unvereinbar sind: Anklägerin und Richterin zugleich.

Das liegt an der österreichischen Strafprozessordnung, die für die sogenannte Hauptverhandlung nach wie vor ein "setting" vorsieht, das an den Inquisitionsprozess erinnert. Denn im Strafprozess kommt Richtern eine, ja die zentrale Rolle schlechthin zu. Ihre Aufgabe ist es, "die Wahrheit von Amts wegen zu erforschen". Also sind sie es, die Beschuldigten, Zeugen und Sachverständigen genau so lange Fragen zu stellen haben, bis wirklich alles zur Aufklärung Nötige gesagt ist.

Sie sind es, die über die Aufnahme von Beweisen und deren Reihenfolge entscheiden, die laufend beurteilen (müssen), was noch relevant ist und was nicht mehr. Sie sind es, die also zunächst das Was feststellen müssen und danach rechtlich zu beurteilen haben, ob und welches Delikt gesetzt und schließlich, welche Strafe zu verhängen ist.

"Pappkameraden" 

Zwar haben Staatsanwälte und Verteidiger (und auch die Angeklagten selbst) das Recht, nach den Richtern eigene Fragen zu stellen, sich zu äußern oder eigene Beweise zu beantragen. Doch in diesem Rahmen kommt das sehr bald einem Affront gleich: Wer viele Anträge stellt und lange fragt, drückt damit ja auch aus, dass der Richter die Wahrheit - noch - nicht von Amts wegen erforscht hat, das heißt aber: seinen Job nicht ordentlich macht. Dementsprechend bescheiden sind im Allgemeinen die Beiträge von Anklage und Verteidigung in einem Strafprozess. Manch ein Beobachter einer durchschnittlichen Strafverhandlung gewinnt den Eindruck, da agiere ein Richter, um ihn herum säßen aber nur noch Pappkameraden.

In normalen Strafprozessen fällt das nicht weiter auf. Die meisten Prozesse dauern auch nur ein paar Stunden, vielleicht Tage. Allen Beteiligten liegt dabei ein Akt vor, der so vollständig ist, dass es nicht mehr um Ermittlung, sondern nur noch um Beurteilung geht, um die Festlegung der Rechtsfolgen eines schon festgestellten Sachverhalts.

Normal ist also, dass zu Beginn einer Hauptverhandlung praktisch alle belastenden und entlastenden Fakten auf dem Tisch liegen. Unter diesen Umständen macht es tatsächlich kaum einen Unterschied, wer die paar noch offenen Fragen zu Motiv, Schwere der Schuld oder Höhe des Schadens stellt. Da braucht es keine großartigen Anträge und Äußerungen, man könnte auch sagen: Für gewöhnlich fällt es gar nicht auf, dass unsere Richter immer noch Inquisitoren sind.

Das Verfahren in Wiener Neustadt war freilich vieles, normal war es nicht. An ihm ist deutlich geworden, was passiert - passieren muss - wenn Polizei und Staatsanwaltschaft ihre Arbeit vor einem Strafprozess nicht ordentlich erledigt haben.

Dann werden Anträge der Verteidiger notwendig zur Wahrheitsfindung, sprich zur Klärung der Faktenlage. Dann werden Äußerungen von Angeklagten zur unverzichtbaren Erkenntnisquelle. Dann wird alles unumgänglich, was Richter gar nicht gewöhnt sind, weil es der gewöhnlichen Prozessrealität diametral widerspricht. Dann herrscht dicke Luft im Gerichtssaal.

Unmöglicher Job

Wie sollen aber Angeklagte (und wie soll die Öffentlichkeit) eine Richterin als unparteiisch erleben, wenn sie permanent im Zentrum des Verfahrens steht und damit auch im Zentrum der (vielfach berechtigten) Kritik an den Fehlern von Polizei und Anklagebehörde? Wie soll sie neutral wirken, wenn sie ständig in die Rolle gedrängt wird, diese Fehler zu rechtfertigen - weil sie, und nur sie, die Verhandlung führt? Wie soll sie sich aus Streit mit Angeklagten und Verteidigern heraushalten können, wenn der Staatsanwalt neben ihr zu alledem wenig bis gar nichts sagt, weil die Prozessführung gar nicht seine Aufgabe ist? Andere hätten diese Aufgabe vielleicht anders erledigt - aber im Grunde war dieser Job unmöglich.

Wenn auf einem Fußballplatz jeder Pass über den Schiedsrichter laufen müsste, wenn der Schiedsrichter zur zentralen Spielfigur würde, der Vorwurf der Parteilichkeit käme ganz zwangsläufig auf - und genau in diesem Dilemma stecken Österreichs Strafrichter. Mitspielen oder beurteilen - beides zugleich geht nicht.

Gerechtigkeit muss nicht nur geübt, sie muss auch sichtbar gemacht werden. Wesentlicher Bestandteil dieser Gerechtigkeit ist die Unparteilichkeit von Richtern. Diese wirklich sichtbar zu machen, ist im Rahmen unserer derzeitigen Strafprozessordnung aber fast unmöglich. Das wird zwar nur in ganz seltenen Fällen so deutlich wie hier. Aber ein Rechtssystem, das etwas auf sich hält, muss gerade für die seltenen, "ausgerissenen" Fälle Vorkehrungen treffen - sonst haben wir nicht sichtbare Gerechtigkeit, sondern den fatalen Eindruck einer parteiischen Strafjustiz.

System überdenken 

Das Verfahren in Wiener Neustadt sollte daher nicht nur Anlass sein, den berüchtigten Paragrafen 278a ("Mafia-Paragraf") schleunigst zu überdenken, sondern auch und vor allem die Stellung unserer Richter im Strafprozess. Was wir im 21. Jahrhundert brauchen, sind Richter/-innen, deren Position sie wirklich neutral macht, ist ein Prozess, der zwischen Anklage und Verteidigung geführt wird - vor Richtern, aber nicht von ihnen.

Die Inquisition ist Gottlob schon über 200 Jahre tot. Höchste Zeit ihre letzten Lebensreste aus unseren Rechtssystem zu tilgen. Das wären wir unseren Richtern schuldig. (DER STANDARD Printausgabe, 8.4.2011)