Für etwas, was der Türke nicht so recht begreift oder wovon er schlicht keine Ahnung hat, gibt es einen Ausdruck aus dem beliebten europäischen Nationen-Strauß: „Fransız kalmak" - einer Sache „Französisch" gegenüberstehen. Was also im Deutschen die „böhmischen Dörfer" oder im Französischen die „auberges espagnoles" wären, die „spanischen Herbergen". No clue. Im Plenum des Europarats in Straßburg am Mittwoch, auf französischen Boden, hat der türkische Regierungschef den Spieß umgedreht. Es war einfach zu leicht: Als ihn die französische Delegierte Muriel Marland-Militello von Nicolas Sarkozys konservativer Präsidentenpartei Union für eine Volksbewegung (UMP) nach Garantien für die freie Religionsausübung in der Türkei fragte, konterte Erdogan mit „Fransız kalmak". Im Türkischen habe man eine Redewendung für jemanden, der etwas nicht wüsste oder aus dem Zusammenhang gerissen spreche. Man sage dann, er käme aus Frankreich...

Ein Volk von Schimmerlosen, diese Franzosen. Dicke Freunde werden Erdogan und die Türkeifresser aus dem Sarkozy-Lager wohl nicht mehr. Der türkische Regierungschef bürstete im Europarat in knapp zwanzig Minuten alle kritischen Fragen ab, doch wird man ihm zugute halten müssen, dass er immerhin ins Plenum kam und sich den Delegierten stellte. Die Türkei hat in diesem Jahr den Vorsitz der 47-Staaten-Organisation.

Madame Marland-Mitello hatte also keine Ahnung vom üppigen Freiraum der religiöser Minderheiten in der Türkei. „Ich bin der Garant der freien Religionsausübung", sagte Erdogan und erinnerte an den orthodoxen Gottesdienst im Sümeliya-Kloster bei Trabzon im vergangenen Jahr, die Wiedereröffnung der mit Regierungsmitteln restaurierten armenischen Heilig-Kreuz-Kirche auf dem Van-See oder die Messfeiern in der Paulus-Kirche in Tarsus. Alles Premieren, die unter der konservativ-muslimischen Regierung stattfanden, aber dann nicht wirklich weitergeführt wurden. Christen in der Türkei - eine winzige Minderheit - versichern weiter, dass sie zum Beispiel nicht in den Staatsdienst aufgenommen würden. Erdogan griff dafür schnell die französische Regierung für ihr Burkaverbot an. In Frankreich gäbe es heute keine Achtung der Religionsfreiheit - „Ist das Demokratie?".

Drei weitere Punkte kamen in der Frage-Antwort-Runde zur Sprache: Erdogan wiederholte seinen Standpunkt zur heftig kritisierten Verhaftung von Journalisten und der Beschlagnahmung des Buchmanuskripts „Die Armee des Imam" (http://derstandard.at/1301874222208/Verbotenes-Buch-Imam-Buch-bereits-geleakt); alles eine Entscheidung der Justiz, seine Regierung habe nichts damit zu tun. Die Vorwürfe gegen die Journalisten verglich er aber mit „Bombenlegern", die ein Attentat vorbereiten würden.

Tiny Kox, sozialistischer Senator aus den Niederlanden, wollte von Erdogan wissen, warum dieser nicht sein Versprechen einlöse, die Zehn-Prozent-Hürde für Parteien bei den Parlamentswahlen zu verringern. Die Antwort des türkischen Premiers: Ein-Parteien-Regierungen sind gut für die Türkei, Koalitionsregierungen - eine mögliche Folge von niedriger Sperrklausel und vieler Parteien im Parlament - seien dagegen Zeiten des Stillstands im Land gewesen. Und seine Partei, die AKP, so Erdogan, habe ja gezeigt, dass trotz Zehn-Prozent-Hürde des alten Regimes eine neue politische Kraft eine Regierungsmehrheit erringen kann. „Wenn die Zeit kommt, fragen wir das türkische Volk", sagte Erdogan über eine Änderung der vielfach kritisierten Zehn-Prozent-Hürde. „Aber wir fragen unser Volk, nicht Sie."

Schließlich war die Reihe an Armen Rustamyan, Delegierter der oppositionellen nationalistischen Dashnak-Partei in Armenien. Es war einer der kurzen Momente, wo der Europarat seine Qualität zeigte. Wo sonst wäre es möglich, dass ein armenischer Politiker einen türkischen Regierungschef mit einer Frage konfrontieren könnte? Rustamyan forderte Erdogan auf zu erklären, worin der Sinn der Normalisierungsprotokolle von Zürich und der vereinbarten Öffnung der türkisch-armenischen Grenze liege, wenn die Türkei nun auf Fortschritte beim Berg-Karabach-Konflikt mit Aserbaidschan drängt und das Monument für die Menschlichkeit in Kars, nahe der Grenze zu Armenien demontieren ließe.

Erdogan wusste Rat: Die Grenzen könnten geöffnet werden, wenn Armenien nur „entschlossener" wäre und sich nicht auf dem „Rücksitz" von der armenischen Diaspora fahren ließe, d.h. Eriwan solle mehr Zugeständnisse bei Karabach an Aserbaidschan machen. Eine kleine mathematische Korrektur gab es auch: 70.000 Armenier mit türkischer Staatsbürgerschaft lebten in der Türkei, erklärte Erdogan, und 40.000 ohne Papiere. Vor einem Jahr sprach er noch von 100.000 illegalen Armeniern, die er aus dem Land weisen könnte, wenn er nur wollte.