Don E. Schultz, Vor- und Nachdenker im Marketing, bei einem Vortrag an der FH Wien. Am Institut für Kommunikationsmanagement hält er dieses Semester eine Lehrveranstaltung.

Foto: Peter Dietrich/FH Wien

"What the hell is the thing about Charlie Sheen?", fragt Don E. Schultz und meint damit den Hype, der auf Social Media-Kanälen grassiert. Der Schauspieler hat auf Twitter fast 3,6 Millionen "Follower", auf Facebook zählt Sheen über eine Million Fans. Plattformen, auf denen er sich als "böser Bub" inszenieren kann. "Die Leute wollen am Puls der Zeit bleiben", erklärt er, "sie wollen sehen, was passiert".

Charlie Sheen selbst ist nicht besonders wichtig, er stehe aber exemplarisch für neue Kommunikationsformen und sich radikal verändernde Marktplätze, referierte Schultz, seines Zeichens Professor an der Northwestern University. Der Amerikaner gilt als Pionier der Integrierten Marketingkommunikation. Auf Einladung der FH Wien für Kommunikationsmanagement war er am Donnerstag zu Gast in Wien.

Konsumenten gewinnen Kontrolle

Marketingabteilungen hätten am liebsten die gesamte Kontrolle über ihre Kommunikation, ihre Produkte und ihre Botschaften. Eine Kontrolle, die sie de facto schon längst verloren haben, so Schultz. Die Erosion begann bereits in den 90er Jahren und fußte auf neuen Technologien. Handy und Internet etwa. Heute hätten die Konsumenten sowohl Produktinformationen als auch ihre Mediennutzung selbst in der Hand. Botschaften des Marketings, der Werbung könnten einfach geblockt werden: "Alles, was Kunden wissen wollen, ist nur ein paar Klicks entfernt." Man kann die Leute nicht mehr für dumm verkaufen. Die Machtverhältnisse hätten sich klar zugunsten der Konsumenten verschoben. Unternehmen waren beim Diktieren gut, aber nicht beim Zuhören, so Schultz. Das müsse sich ändern.

Zahlen bekommen ein Gesicht

Käufer sind jetzt in der Position, mit Verkäufern verhandeln zu können, um einen besseren Deal abzuschließen. "Eine Situation, die Marketer bis jetzt nicht kannten." Deswegen wüssten sie auch nicht, wie sie damit umgehen sollen. Preisdiktate werden aus den Angeln gehoben. "Kunden suchen sich aus, mit wem sie eine Beziehung eingehen." Sie bestimmen die Spielregeln des Marktes, der zuvor nur eine Einbahnstraße in die andere Richtung war. Historisch gesehen hätten sich Marketer nie um ihre Kunden geschert, "sie waren nur Zahlen". In einem Spiel, das sich rein auf den Absatz konzentrierte. Jetzt, führt Schultz aus, bekommen diese Zahlen ein Gesicht. "Sie werden als Individuen wahrgenommen". Mit unterschiedlichen Bedürfnissen und Wertvorstellungen.

"Alles über Kunden wissen"

"Als Kunde hat man so viel Auswahl, man kann das Marketing ignorieren". Ein Preisvergleich dauert wenige Sekunden. Es reiche nicht mehr Milliarden in Werbung zu buttern, Beziehungen müssten aufgebaut werden. Um dieser Entwicklung Rechnung zu tragen, sollte das gesamte Verkaufspersonal neu gepolt werden, schlägt Schultz vor: "Der Job bestand früher darin, Überzeugungsarbeit für ein Produkt zu leisten." Als Verkäufer sei es nicht mehr notwendig, alles über die Ware zu wissen, sondern: "Sie müssen alles über ihre Kunden wissen." Käufer informieren sich sowieso - auf anderen Wegen.

Der Fokus im Marketing müsse weg vom reinen Verkaufsziel hin zu einer langfristigen Strategie führen: "Wie schaffe ich es, Kunden an das Unternehmen zu binden, ihre Bedürfnisse zu befriedigen?" Im Idealfall ein reziproker Prozess. Vom Profit- in Richtung Servicecharakter.

"Trial and error"

Die momentane Dominanz von Facebook will Schultz nicht überbewerten. Das Portal sei nur ein Weg von vielen, um mit potenziellen Kunden zu kommunizieren. "In drei, vier Jahren wird es vielleicht etwas anderes geben." Werbemaßnahmen müssten viele Kanäle umfassen. Er prognostiziert, dass auch noch im Jahr 2020 rund zwei Drittel der Werbespendings auf "klassische Medien" entfallen werden. Ein Patentrezept für Marketingabteilungen hat der 77-Jährige nicht parat: "Sonst würde ich nicht hier stehen, sondern unter einer Palme liegen und Champagner schlürfen." Die Devise: "Trial and error." (om, derStandard.at, 15.4.2011)