Die Verurteilung des ehemaligen kroatischen Generals Ante Gotovina als Kriegsverbrecher zu einer Haftstrafe von 24 Jahren durch das Haager Kriegsverbrechertribunal hat eine mächtige Welle der nationalistischen Empörung in seiner Heimat ausgelöst und der seit längerer Zeit schwelenden politischen Krise neue Brisanz verliehen. Von der rechtskonservativen Ministerpräsidentin Jadranka Kosor zur sozialistischen Opposition, von den Veteranenorganisationen bis zur katholischen Bischofskonferenz haben alle nationalen Institutionen vorher unbegründete Hoffnungen auf einen Freispruch von dem als Nationalheld verehrten Gotovina und den zwei mitangeklagten Generälen bekundet und die harten Urteile als unannehmbar bezeichnet. (Auch der Ex-General Mladen Martic muss 18 Jahre hinter Gitter, nur der dritte General wurde freigesprochen).

Das Urteil gegen den 2001 verschwundenen und erst Ende 2005 auf Teneriffa verhafteten Gotovina erschüttert das kroatische Selbstverständnis, wonach die Rückeroberung der mehrheitlich von Serben bewohnten Region Krajina 1995 ein gerechter Befreiungskrieg und eine saubere Militäroperation gegen die serbischen Aggressoren gewesen sei. Der Verfasser dieser Zeilen gehört zu jenen, die stets gegen die Verteufelung Kroatiens und für seine Unabhängigkeit nach dem offenkundigen Scheitern des zweiten Jugoslawiens aufgetreten sind. Weder die Erinnerung an die Gräueltaten des Ustascha-Regimes des von Hitler und Mussolini geschaffenen Zwergstaates noch die nationalistischen Exzesse der korrupten Tudjman-Ära in den 90er-Jahren durften als scheinheilige Argumente für die politische und wirtschaftliche Diskriminierung Kroatiens dienen. Unbestritten bleibt die Tatsache, dass Kroatien nach 1991 Opfer der von großserbischem Nationalismus entfachten Eroberungspolitik war.

Während der Militäroperation "Sturm" im Sommer und Frühherbst 1995 zur Befreiung der von serbischen Rebellen besetzten kroatischen Territorien sei jedoch General Gotovina als Oberbefehlshaber laut dem Gericht für Morde an mehr als 300 Zivilisten sowie für massenweise Plünderungen und für die Vertreibung von mehr als 90.000 Menschen maßgeblich verantwortlich gewesen. Präsident Tudjman und seine engsten Mitarbeiter (auch Gotovina) hätten "ein gemeinsames kriminelles Unternehmen" in die Wege geleitet, um die serbische Zivilbevölkerung "durch Gewalt oder die Androhung von Gewalt" auf Dauer aus der Krajina zu entfernen. Das Tribunal betonte ausdrücklich, es hatte nicht die Rechtmäßigkeit des Krieges zu beurteilen, sondern nur, ob serbische Zivilisten Opfer von Verbrechen wurden und ob die angeklagten Generäle dafür verantwortlich waren. Trotzdem wird das Verdikt von der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung als eine Verurteilung Kroatiens betrachtet und mit Empörung zurückgewiesen.

Ebenso wie die Serben und die Kosovo-Albaner haben auch die Kroaten die ernsthafte Auseinandersetzung mit den düsteren Seiten ihrer Kriegsvergangenheit nie richtig begonnen. Die leidenschaftlichen Protestaktionen zeigen jedenfalls den dominierenden Einfluss nationalistischer Werte und belasten die ohnehin schwierigen EU-Beitrittsverhandlungen noch mehr. (Paul Lendvai /DER STANDARD, Printausgabe, 19.4.2011)