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Wachmacher mit Langzeitfolgen: 80.000 Menschen sollen in Deutschland regelmäßig zu Ritalin greifen.

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"Konzentrationsstörungen haben viele Menschen. Das heißt aber noch lange nicht, dass sie an ADHS leiden!", appelliert Michael Musalek an Ärzte und Betroffene, der Suchtproblematik erhöhte Aufmerksamkeit zu widmen.

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"Das große Problem beginnt mit der Bezeichnung: 'Lifestylepillen' ist ein der Medizin völlig unbekannter Terminus", erklärt Michael Musalek, Vorstand und ärztlicher Direktor des Anton Proksch-Instituts (API) in Wien. Die unter diesem Begriff meist online gehandelten Pillen lassen sich in drei Gruppen einteilen: Amphetamine, Potenzmittel, Antidepressiva. "Gerade bei letzteren ist der Missbrauch besonders sinnlos, da sie bei gesunden Menschen keinerlei Wirkung zeigen", betont Musalek.

Amphetamin-Abhängigkeit

Die meisten Menschen, die von sogenannten Lifestylepillen abhängig sind und sich ans API wenden, leiden unter der Abhängigkeit von Amphetaminen. Methylphenidat zählt zu den amphetaminähnlichen Substanzen und ist heute unter dem Handelsnamen Ritalin am Markt. Ein - früher nicht unüblicher - Selbstversuch von Marguerite ("Rita") Panizzon war namensgebend. Die Ehefrau von Leandro Panizzon, eines Angestellten der Schweizer Firma Ciba (heute Novartis), konnte in den 1940er-Jahren unter Einnahme des Medikaments ihre Leistung im Tennis maßgeblich steigern. Ciba führte Ritalin 1954 zunächst rezeptfrei auf dem Markt ein, 1971 wurde es dem Betäubungsmittelgesetz unterstellt.

Leistungssteigerung und Wachheit

Ritalin führt zu Leistungssteigerung und Wachheit sowie, bei unsachgemäßer Anwendung, zu sehr rascher Abhängigkeit. In den USA greifen laut Vince Cakic, Psychologe an der Universität Sydney, bis zu 25 Prozent der Studierenden vor Prüfungen zu Medikamenten. In den letzten acht Jahren soll die Anzahl der "dopenden" Studierenden um 75 Prozent gestiegen sein, ergab eine Studie amerikanischer Kinderärzte.

Die Welle ist in Deutschland angekommen: 80.000 Menschen sollen regelmäßig zu dem Methylphenidat greifen. Für Österreich liegen keine Daten vor, "aber immer mehr Menschen sind von Ritalin, und generell von Medikamenten abhängig", konstatiert Musalek. Einerseits weil Ritalin vermehrt verschrieben, andererseits weil in Internet-Foren die Steigerung der Leistungsfähigkeit kommuniziert werde.

"Zurzeit beobachten wir einen Boom"

Aber haben Menschen nicht seit es Amphetamine gibt, Missbrauch damit betrieben? "Zurzeit beobachten wir einen Boom", sagt der API-Direktor. Was zum einen an der Bagatellisierung als Lifestylepillen liege, zum anderen an der Tatsache, dass Ritalin erfolgreich beim Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsyndrom ADHS bei Kindern zum Einsatz kommt. "Nun wird ADHS auch bei immer mehr Erwachsenen diagnostiziert", weiß Musalek, was zu einem stetigen Anstieg der Verschreibungen von Ritalin führt. Wenn man jedoch gar nicht daran leide, könne diese Verschreibung gefährlich werden, vor allem, wenn Ritalin über einen längeren Zeitraum eingenommen werde. "Konzentrationsstörungen haben viele Menschen. Das heißt aber noch lange nicht, dass sie an ADHS leiden!", appelliert Musalek gleichermaßen an Ärzte und Betroffene, der Suchtproblematik erhöhte Aufmerksamkeit zu widmen.

Sich selbst hohen Gefahren aussetzen

Ritalin wird rezeptpflichtig in Apotheken vertrieben. "Für den Erwerb über das Internet und am Schwarzmarkt spricht rein gar nichts, es sei denn, man möchte sich hohen Gefahren aussetzen", warnt Musalek. Es handelt sich um eine hochwirksame Substanz, die zu massiven Schädigungen führen kann, und "es gibt keine Qualitätskontrolle. Wir würden niemals Fleisch kaufen, das nicht kontrolliert ist. Aber mit Pillen haben wir kein Problem." 

Diesbezüglich spricht Musalek zwei Problembereiche an: Eine Überdosierung führt zu einer zu starken Antriebssteigerung. Man kann nicht mehr schlafen, leidet unter erhöhter Herzfrequenz, schwitzt und kommt im schlimmsten Fall in einen lebensbedrohlichen Zustand. Ein weiterer Problembereich liegt in der Abhängigkeit. "Wer Ritalin einnimmt, muss die Dosis laufend erhöhen. Irgendwann behandelt er nur noch das Entzugssyndrom und hat am Ende eine Null-Rechnung. Er verspürt keine Wirkung mehr, kann das Medikament aber auch nicht absetzen und gerät damit in einen Teufelskreis."

Massive Entzugserscheinungen

"Bei der Absetzung von Ritalin kommt es zu massiven Entzugserscheinungen", betont Musalek. "Wer abhängig ist, muss in stationäre Behandlung - wie übrigens fast alle von Medikamenten Abhängigen." Die Therapie ist schwierig und komplex: Die Entzugserscheinungen dauern Wochen. Es braucht eine dementsprechende medikamentöse Unterstützung sowie eine Therapie der Grundstörung.  Oft handelt es sich auch um ein Burnout, was laut Musalek eine umfassende Umgestaltung der Lebensführung nach sich zieht. "Immer mehr Menschen setzen ihre Freizeit mit Arbeit gleich. Sie arbeiten in ihrer Freizeit und sind der Meinung, Freizeit zu haben", berichtet der API-Direktor. Erschwerend kommt die oftmalige Mehrfachabhängigkeit dazu. Musalek: "Ein Klassiker ist, dass man tagsüber Amphetamine zu sich nimmt und abends Alkohol und/oder Tranquilizer." (Eva Tinsobin, derStandard.at, 19.04.2011)