Eines der eingereichten Projekte für den diesjährigen "SozialMarie"-Preis: So sieht es aus, wenn eine vietnamesische eine ihr unbekannte Prager Familie zum Mittagessen bewirtet ...

Foto: Slovo 21

... und so, wenn es umgekehrt ist und Dokumentarfilmer dabei sind: Familie Chink schmaust tschechisch bei den Machovs.

Screenshot: Cremer

So sehen die Behausungen der Delogierten in Nagykanisza aus ...

Foto: Unruhe Privatstiftung

... und so ein von Studenten und Bewohnern renoviertes Haus mit Sozialwohnungen.

Foto: Unruhe Privatstiftung

Prag/Budapest/Wien - Frau Machov hat's gerne traditionell. Heute gibt es Gemüsesuppe mit hausgemachten Frittaten, danach gefüllte Bramboráèky (Erdäpfelpuffer) mit Salat. Und danach Torte mit Kaffee. Nicht täglich kocht die Pragerin Machov zum Mittagessen drei Gänge - aber heute kommen Gäste, von denen sie nur so viel weiß: "Es ist ein Mann aus Vietnam mit seiner Tochter."

Der "Mann aus Vietnam", Vu Quoc Chink, bereitet sich mit Bedacht auf den Besuch bei den Machovs vor. Er bestellt ein Taxi, besorgt Blumen, ist pünktlich auf die Minute. Seine Tochter Tajkou, eine Studentin an der Prager Karls-Universität, sieht die Sache lockerer und ist bloß "neugierig, was uns dort erwartet". Die Gäste und die Gastgeber haben einander noch nie gesehen. Die NGO "Slovo 21" hat sie zusammengebracht und ihr Treffen mit einem Dokumentarfilm unter dem Titel "Die Familie von nebenan" begleitet. Dem zufolge ist das Treffen ein voller Erfolg. "Eine sehr angenehme Familie, ganz normal, wie wir", lobt Frau Machov ihre Gäste.

"SozialMarie"

Das Projekt "Die Familie von nebenan" ist in diesem Jahr für den NGO-Preis "SozialMarie" der österreichischen Unruhe-Privatstiftung eingereicht worden. Insgesamt 265 Sozialprojekte aus sechs Ländern bewarben sich heuer.

Das tschechische MittagessenProjekt, erstmals 2004 realisiert, findet einmal im Jahr statt. Da treffen einander zeitgleich hunderte "einheimische" tschechische und Migrantenfamilien. Die Aktion wird mittels TV-Spot vor den Hauptnachrichten beworben, tschechische Familien melden sich via Internet an, die Migrantenfamilien werden von NGO-Mitarbeitern direkt angesprochen, weil sie via TV nicht so leicht zu erreichen sind. Slovo 21 achtet darauf, dass die Familien auch strukturell zusammenpassen, dass das unverheiratete Paar nicht schreckstarr auf die Familie mit fünf lebhaften Kleinkindern trifft. Bei den Treffen ist immer ein Assistent der NGO dabei, um etwaigen Dissonanzen schon im Vorfeld die Lautstärke zu nehmen.

Auf andere Befindlichkeiten wird explizit keine Rücksicht genommen. So meldete sich einmal eine tschechische Familie, die sagte, sie würde sehr gerne eine Migrantenfamilie bewirten - "allerdings dürfen es keine Vietnamesen sein". "Die haben wir erst recht mit einer vietnamesischen Familie konfrontiert, und der Erfolg war durchschlagend. Die treffen sich heute noch", erzählt Projektkoordinatorin Bulgan Orgonsuren Rico. Insgesamt 900 Familien sind mittlerweile auf diese Weise miteinander in Kontakt getreten, die Karls-Universität in Prag hat das Projekt mit einer Langzeitstudie begleitet. Das Ergebnis: Rund die Hälfte aller Besucher und Besuchten blieb weiter miteinander in Kontakt.

Renovieren in Ungarn

Obwohl tschechische Medien gerne und wohlwollend über das Projekt berichten, ändert das nichts an der tendenziell xenophoben Einstellung der tschechischen Gesellschaft. Dies belegt eine Straßenumfrage, die für den Dokumentarfilm durchgeführt wurde. Die darin befragten Tschechinnen und Tschechen antworten beinahe einhellig auf die Frage, wie viele Ausländer in Tschechien lebten: "Mehr als genug."

Sie schätzten den Ausländeranteil in der tschechischen Republik auf 30 Prozent und mehr. Mit der Realität hat das wenig zu tun: Gerade einmal 3,9 Prozent Migranten leben derzeit in der tschechischen Republik. Der Haken an "Die Familie von nebenan" ist denn auch, dass sich nur jene tschechischen Familien für die Aktion bewerben, die von vornherein offen sind für die "anderen" und gängige Vorurteile von sich aus hinterfragen.

Mit dem Hinterfragen von Vorurteilen hat auch ein ungarisches Projekt zu tun, das in der Endauswahl für den diesjährigen SozialMarie-Preis steht. Es geht dabei um die Widerlegung der (nicht nur) in Ungarn weit verbreiteten Ansicht, dass Sozialhilfe-Empfänger auf Kosten hart arbeitender Steuerzahler in der sozialen Hängematte schaukelten.

Konkret geht es um ein Projekt, bei dem Freiwillige gemeinsam mit den Bewohnern Sozialwohnungen in Ligetvarós, einer sozial isolierten Siedlung in der westungarischen Stadt Nagykanisza, etwa 15 Kilometer von der Grenze zu Kroatien entfernt, renovieren. In den Baracken eines ehemaligen Militärhospitals aus dem Ersten Weltkrieg waren Sozialwohnungen für 500 Menschen gebaut worden. Schon lange haben sich weder Komitat noch Kommune die Mühe gemacht, diese Wohnungen zu renovieren.

Denn "die Armen" am Rande der Stadt können, nach Wende, EU-Beitritt, Wirtschaftskrise, von dem wenigen, das sie haben, kaum die Miete bezahlen. Die Arbeitslosigkeit ist hoch in Nagykanisza. Rund die Hälfte der Bewohner des alten Militärhospitals sind Roma-Familien, die andere Hälfte sind Einheimische, die ökonomisch gestrandet sind. Wer die Miete nicht mehr bezahlen kann, kommt in ein Schuldenregulierungsprogramm. Greift das auch nicht, werden die Menschen delogiert.

100 Wohnungen renoviert

Eine Gruppe junger Leute, die am "College for Advanced Studies in Social Theory" an der sozialwissenschaftlichen Fakultät der Uni-Budapest studieren, hat begonnen, mithilfe der Bewohner diese Wohnungen zu renovieren. Rund 100 Wohnungen wurden mittlerweile renoviert, die Bautrupp-Teams sind mittlerweile auf bis zu 100 Personen angewachsen, auch kanadische und US-Studenten von "habitat for humanity", einer christlichen Non-Profit-Vereinigung, helfen mit.

Mit der Stadt Nagykanisza konnten die Studenten mittlerweile eine Vereinbarung treffen. Bewohner der Sozialwohnungen, die an der Renovierung ihrer Häuser mitarbeiten, bekommen pro abgeleistetem Arbeitstag einen Betrag gutgeschrieben, der von ihren Mietrückständen abgezogen wird. Damit haben die arbeitslosen Bewohner des Militärhospitals nicht nur eine Aufgabe, auch die drohende Delogierung wird dadurch abgewendet. Die Kommune verpflichtet sich im Gegenzug, die nun wertgesteigerten Wohnungen zehn Jahre lang nicht zu verkaufen.

"Uns hat die Komplexität des Projekts beeindruckt", sagt SozialMarie-Projektprüferin Petra Radetschnig. Dass die jungen Leute diesen "Deal" mit der Gemeinde abschließen konnten, sei "beachtlich": "Dass Fidesz die Stadt regiert, hat die Sache nicht unbedingt einfacher gemacht." (Petra Stuiber, DER STANDARD-Printausgabe, 26.4.2011)