Paris - Die Brandspuren an der Mauer in Mérignac wurden rasch beseitigt. Doch Blumenkränze und mehrere hundert trauernde Télécom-Angestellte erinnern an das tragische Ende des vierfachen Familienvaters Rémy L. in der Nähe von Bordeaux. Der 57-jährige Mitarbeiter von France Télécom / Orange hatte sich mit Benzin übergossen und in Brand gesteckt. Er wusste, dass noch mehr als eine Stunde vergehen würde, bis die ersten Kumpels am Arbeitsplatz erscheinen würden, versprach sich also keine letzte Rettung mehr. Nicht einmal ein Abschiedsschreiben hinterließ Rémy L. Einer seiner Söhne sieht hingegen einen "klaren" Grund für die spektakuläre Verzweiflungstat, die zweifellos von den Selbstverbrennungen der arabischen Revolutionen inspiriert worden war: "Das war die Art, wie France Télécom / Orange mit seiner Karriere umgegangen war."

In etwa zwei Jahren haben sich bei France Télécom und der Mobilfunksparte Orange 58 Angestellte das Leben genommen - zumeist am Arbeitsplatz und unter Angaben von beruflichen Motiven. "Der neuste Todesfall geht darüber hinaus und ist ein Signal der Auflehnung", sagt die Psychiaterin Brigitte Font Le Bret, Autorin eines Buches über die Suizidwelle bei Télécom mit dem Titel Während sie die Toten zählen.

In den letzten Monaten war die Zahl der Selbstmorde unter den 167.000 Konzernangestellten zurückgegangen. Der frühere Vorsteher Didier Lombard musste den Hut nehmen, sein Nachfolger Stéphane Richard gelobte, die Empfehlungen einer auswärtigen Betriebsstudie in die Tat umzusetzen. Er stoppte den Personalabbau und plante die Einstellung von 3500 neuen Mitarbeitern. Jetzt konnte er nur ankündigen, er werde "die furchtbare Tat untersuchen lassen".

Gewerkschafter wie Philippe Méric halten das für ungenügend, denn die Angestellten blieben "den gleichen Zielen wie vorher unterworfen". Die neue Direktion wirke wie die alte besessen von der Erhöhung der Kundenzahl, die heute 210 Millionen in 32 Ländern beträgt. Der miserable, oft kafkaeske Kundendienst halte mit dieser Entwicklung nicht mit und treibe Abonnenten auf die Palme.

"Gespannt, zum Teil aggressiv" ist die Stimmung im Unternehmen, wie eine Studie befand. Das gelte zum einen für die jungen, nur noch temporär angestellten Mitarbeiter in den Callcenters, zum anderen für die über 50-Jährigen, die noch das Beamtenstatut des früheren Service-Public-Anbieters France Télécom genössen.

In Frankreich fallen noch zwei Drittel unter dieses Regime, das sich in der schnelllebigen und profitorientierten Branche wie ein Steinzeitfossil ausnimmt. Weil den Télécom-Veteranen bis zur Rente nicht gekündigt werden kann, sehen sie sich oft in neugeschaffene Abteilungen versetzt oder zurückgestuft. Viele Orange-Selbstmörder haben diese "Beförderung in den Besenschrank" in Briefen als Motiv für ihre Tat angegeben. (
Stefan Brändle aus Paris, DER STANDARD, Print-Ausgabe, 28.4.2011)