Finanzmathematiker werden oft gefragt, warum sie nicht reich sind. Das sollte doch, meinen Skeptiker, das Allermindeste sein, was man erwarten dürfe. Aber die Frage trifft ins Leere. Goldesel (money pumps) gibt es nicht: Es gibt keinen risikolosen Weg zu immer mehr Geld.

Ähnlich wie Physiker aus der Unmöglichkeit eines Perpetuum mobile Aussagen herleiten über die Erhaltung der Energie, leiten Finanzmathematiker aus der Unmöglichkeit eines Goldesels - der "Arbitrage" - die Gleichungen her, die Finanzmärkte steuern. Bereits 1900 verfasste der französische Mathematiker Louis Bachelier eine Dissertation, die darauf gründete, dass sich Spekulationen mit Aktienkursen nur wenig vom Spiel am Roulettetisch unterscheiden. Die Fluktuation von Börsenkursen sei eine "Irrfahrt" in einem ganz präzisen mathematischen Sinn. Wenn ein Glücksspieler in jeder Runde mit gleicher Wahrscheinlichkeit einen bestimmten Einsatz gewinnt oder verliert, so schwankt sein Kontostand auf und ab - zufällig, aber nicht regellos, sondern den Gesetzen der Wahrscheinlichkeitslehre gehorchend: Wenn er nur lang genug spielt (und beliebig viel Schulden machen kann), wird er sicher einmal wieder seinen ursprünglichen Kontostand erreichen.

Derlei Schwankungen, oder Irrfahrten, folgen dem Gesetz der großen Zahlen. Wenn die Runden sehr schnell aufeinander folgen und der Einsatz klein ist, sind sie nicht unterscheidbar von der "Brownschen Bewegung", benannt nach dem Botaniker Brown, der 1827 beobachtet hatte, wie mikroskopisch kleine Teilchen dauernd völlig ungerichtet herumtanzen.

1905 fand Albert Einstein (und zeitgleich Marian Smoluchowski aus Mödling) die Erklärung für die Brownsche Bewegung: Die kleinen Teilchen tanzen hin und her, weil noch viel kleinere Moleküle in thermischer Bewegung von allen Richtungen dagegenstoßen. Das lieferte eine erste Bestätigung der Atomhypothese.

Aber der mathematische Kern des physikalischen Phänomens war derselbe wie der hinter den fluktuierenden Börsenkursen. Mathematiker legten Methoden, die für die Thermodynamik entwickelt wurden, auch auf Finanzmärkte um. Tausende von Anlegern versuchen, aus den Schwankungen Gewinne zu schöpfen, indem sie auf steigende oder fallende Kurse setzen - quasi Wetten abschließen. Etwa Optionen.

Der Durchbruch in der Frage der Optionsbewertung erfolgte 1973 und wurde 1997 durch einen Nobelpreis gewürdigt. Die "Black-Scholes-Formel" hat inzwischen die Terminmärkte erobert, das gesamte Risikomanagement revolutioniert und zahlreiche Mathematiker zu beneidenswert gut bezahlten Bankangestellten gemacht. Die dahinter steckenden mathematischen Überlegungen wurden von Wahrscheinlichkeitstheoretikern entwickelt. Zu den Großmeistern der Zunft gehört etwa Hans Föllmer von der Humboldt-Uni Berlin. Er hat den Technologietransfer von der Brownschen Bewegung und den physikalischen Phasenübergängen zur Versicherungsmathematik und Portfoliobewertung vollzogen. Er wird bei der nächsten "Gödel-Lecture" an der Akademie der Wissenschaften sein Fach verständlich darstellen. Tipps für Geldanlagen darf man nicht erwarten. Aber dafür ist der Eintritt frei. (Karl Sigmund/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 17./18. 5. 2003)