Gershon Evan war gerade 16 Jahre alt, als im Jahr 1939 plötzlich Fäuste und Stiefel gegen die Tür der Wiener Wohnung trommelten, die er mit seinen Eltern und seiner Schwester bewohnte. Die Gestapo brachte ihn und seinen Vater zuerst in das Rossauer Gefängnis, dann in eine Haftanstalt im Neunten Bezirk. Bevor die beiden in das Konzentrationslager Buchenwald deportiert wurden, verlegten sie die Nazis aber noch einmal: in das heutige Ernst-Happel-Stadion, wo Gershon Evan wie insgesamt 440 staatenlose Juden von Anthropologen des Naturhistorischen Museums und der Universität Wien vermessen wurde. Das damals von den Wissenschaftern gesammelte Material - von Gipsmasken und Haarproben über Befundblätter bis zu Fotos - sollte der Erforschung von Rassenmerkmalen dienen und tauchte erst vor kurzem im Museum wieder auf.

Unter der Leitung der Anthropologin Maria Teschler-Nicola und des Zeithistorikers Karl Stuhlpfarrer konnte ein Team von Wissenschafterinnen Licht in die Umstände der "Untersuchung" und die Lebensgeschichte der damals vermessenen Menschen bringen. "Der Ausgangspunkt für unsere Recherchen waren 440 Messblätter mit dem Hinweis 'Juden Stadion '39'", schildert die Anthropologin Margit Berner den Beginn des vom Wissenschaftsfonds unterstützten Projektes: "Die Vermessungen im Stadion haben sich weder in der Korrespondenz des Museums noch in den Akten niedergeschlagen. Wir mussten erst einmal herausfinden, wofür dieses Kürzel stand."

Sie ging den geschichtlichen Rahmenbedingungen der anthropologischen Untersuchungen auf den Grund: Den Auslöser für die groß angelegten Verhaftungsaktionen im Herbst 1939 ortet Berner in einem Befehl des Chefs der Sicherheitspolizei, Reinhard Heydrich. Am 7. September, unmittelbar nach Beginn des Zweiten Weltkriegs, wies er seine Beamten an, alle Juden festzunehmen, die entweder die polnische Staatsbürgerschaft besaßen oder aber staatenlos waren, jedoch über das Heimatrecht in Polen verfügten.

Daraufhin wurden in Wien am 10. und 11. September mehr als 1000 Männer verhaftet und - teilweise aufgrund überfüllter Gefängnisse - in das Praterstadion gebracht. Zwei Wochen saßen sie schon im Stadion fest, als die extra für diesen Anlass zusammengestellte anthropologische Kommission unter der Leitung des späteren Direktors der Anthropologischen Abteilung des Wiener Naturhistorischen Museums, Josef Wastl, auf den Plan trat. "Eine Woche lang vermaßen die zehn Kommissionsmitglieder 440 Männer im Alter von 16 bis 83 Jahren nach den damaligen Kriterien der Wissenschaft", schildert die Historikerin Claudia Spring.

Am 30. September wurden die Häftlinge zum Wiener Westbahnhof gebracht und in das Konzentrationslager Buchenwald deportiert, wo bis zum Sommer 1940 zwei Drittel aufgrund der katastrophalen hygienischen Verhältnisse und der medizinischen Unterversorgung starben. Im Praterstadion nahm schon einen Tag nach der Deportation alles wieder seinen gewohnten Lauf: Es fand ein Freundschaftsspiel zwischen Wiener und Budapester Klubs statt, und "in der Anthropologischen Abteilung inventarisierte Josef Wastl die Untersuchungsergebnisse für zukünftige Auswertungen", erklären die Wissenschaftlerinnen.

Um mit Überlebenden beziehungsweise deren Angehörigen in Kontakt zu gelangen, recherchierten Berner und Spring vor allem im Überlebenden-Index des Holocaust Memorial Museum in Washington D.C. und beim österreichischen Nationalfonds für die Opfer des Nationalsozialismus. Diese beiden Institutionen übernahmen auch den Versand der Briefe, in denen die Wissenschafterinnen um Kontaktaufnahme baten. Mehr als 100 Kontakte wurden bereits herstellen.

"Die Reaktionen sind sehr unterschiedlich", schildern die Forscherinnen und erzählen von der Angst der Kinder, dass die Vermessung etwas Schmerzhaftes gewesen sein könnte, über Verwunderung, dass sich die Forscherinnen angesichts des Grauens von Buchenwald um eine vergleichsweise eher harmlose Aktion kümmern, bis hin zu tiefer Betroffenheit, endlich über das Schicksal des Vaters, Großvaters oder Bruders Bescheid zu wissen und vielleicht sogar ein Foto zu bekommen. Den damaligen Opfern ihren Subjektstatus zurückzugeben und ihre Lebensgeschichte soweit als möglich zu recherchieren ist das eine Ziel des Projektes.

Gleichzeitig wollen die Wissenschafterinnen aber auch die Rolle der Anthropologie als die "Wissenschaft vom Menschen" im Nationalsozialismus kritisch reflektieren. Und da stelle die Vermessung im Praterstadion nur die Fortsetzung einer unter Anthropologen üblichen Praxis der Untersuchungen an Kriegsgefangenen dar, wie Margit Berner aus früheren Untersuchgungen weiß: Schon im Ersten Weltkrieg hatten Wissenschafter den Krieg als "Chance für neue Forschungstätigkeiten" und als Möglichkeit gesehen, "an Material heranzukommen, wie es in Normalzeiten nicht möglich war".

Auch die Vermessungen im Praterstadion wurden nicht angeordnet, sondern fanden in Eigeninitiative der Wissenschafter statt. Unmittelbar nach dem Krieg fühlten sich die Wissenschafter nicht schuldig, sondern eher vom nationalsozialistischen Regime "missbraucht". Die Ergebnisse der Praterstadion-Vermessungen beispielsweise wurden nie publiziert. Nach dem Krieg schien ihnen das wohl "nicht mehr opportun", wie es Claudia Spring formuliert. Trotzdem könne man laut Margit Berner davon ausgehen, dass die an den Stadion-Vermessungen beteiligten Anthropologen wussten, was mit den Häftlingen passieren würde - "schließlich haben sie bis zum Tag der Deportation dort gearbeitet". Und darüber hinaus meint sie als Anthropologin, dass man auch die heute noch gebräuchlichen Methoden und Fragestellungen kritisch auf ihre Tradition hinterfragen müsse.

Gershon Evan überlebte als einer der wenigen das Konzentrationslager Buchenwald. 1940 wurde er entlassen und flüchtete zuerst nach Israel, dann in die USA, wo er seine Erinnerungen im nur auf Englisch erschienen Buch Winds of Life. Destinies of a Young Viennese Jew 1938-1958 veröffentlichte. Über seine Schwester gelang es den Wissenschafterinnen, mit ihm Kontakt aufzunehmen und ihn nach Wien einzuladen. In den nächsten Tagen wird der heute 80-Jährige bei zwei Veranstaltungen von seinen Erlebnissen berichten. (Elke Ziegler/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 17./18. 5. 2003)