Oliver Herwig:
"Featherweights. Light Mobile and Floating Architecture", erschienen bei Prestel in englischer Sprache.
€ 61,36
160 Seiten.

Foto: Buchcover
Hat der Begriff der Leichtigkeit in der Architektur gezwungenermaßen etwas mit Gewicht zu tun? Oliver Herwig sieht in seiner Publikation "Featherweights" die Angelegenheit weiter gespannt.


Oliver Herwig ist Kunsthistoriker, Journalist und ein offenbar der Architektur zugetaner Mann. Er hat gerade ein Architekturbuch herausgebracht, dem man deutlich anmerkt, dass es von einem Nichtarchitekten geschrieben wurde.

Denn ehrlich gestanden: Das Fachidiom, das viele der einschlägigen Publikationen mit der Penetranz der vermeintlich reinen Lehre durchdringt, ist mittlerweile nicht mehr auszuhalten, geschweige denn für Laien zu verstehen. Architektur wird zur Geheimwissenschaft der Raumvalenz und anderer Unverständlichkeiten. Wie schade, dass ein uns alle umgebendes Thema so oft chronisch kalt-wissenschaftlich-wichtigtuerisch abgehandelt werden muss.

Herwig nähert sich dem gewählten Themenkreis hingegen unbeschwert, geradezu fröhlich, von der Last der Existenz noch nicht erdrückt. Er hat sich die "Featherweights", also Federgewichte der Architektur, genauer angeschaut und unternimmt einen wunderbar kurzweiligen, zugleich fundierten Ausflug in die Architektur der Schwerelosigkeiten, der Membranen und Häute, und es ist eine Freude, dieses Buch zu durchfliegen, hier zu landen, da herniederzusinken, Zusammenhänge neu zu denken, Querverbindungen herzustellen.

Was ist Leichtigkeit in der Architektur überhaupt? Muss der Begriff in diesem Zusammenhang gezwungenermaßen etwas mit Gewicht zu tun haben? Oder beginnt die Leichtigkeit bereits in den Gedankenflügen der Konstrukteure, wenn sie Architektur neu denken wollen?

Den Anfang des Buches machen jedenfalls die "Pioniere" der Leichtigkeit, der abhebenden Architektur. Sie nehmen gottlob ein gutes Drittel der Publikation ein, denn derweilen gilt noch der alte Spruch: Es kommt nichts Besseres nach.

Natürlich kann man über diese Ansicht streiten, aber vergleicht man - nur ein Beispiel - die einfache, konstruktiv quasi zum Weinen schöne Eleganz der betonierten Schalen eines Félix Candela aus den 50er- und 60er-Jahren (Mexiko) mit den immer eitler werdenden Post-Guggenheim-Konstrukten des zeitgenössischen Frank Gehry (weltweit), kehrt schon eine gewisse Nachdenklichkeit ein.

Herwig ortet "etwas fast Anarchisches" in den Architekturen Candelas, Coop Himmelb(l)aus, Richard Buckminster Fullers, Archigrams, Pier Luigi Nervis, Eero Saarinens und vieler anderer mehr. Natürlich bringt der Autor hier die verschiedensten architektonischen Galaxien in gefährliche Nähen zueinander, aber genau das macht das Buch spannend, denn was ist die Welt schließlich, wenn nicht ein Haufen Galaxien, die rätselhafterweise irgendwie zusammenspielen?

Dabei hat das Buch durchaus auch einige Entdeckungen parat, beispielsweise den hierzulande weitgehend unbekannten DDR-Architekten Ulrich Müther. Der hat in den 60er- und 70er-Jahren offenbar auf höchstem Niveau mit dünnsten Torkret-Betonschalen experimentiert.

Zum Beispiel ist das hyperbolisch geschwungene Dach einer Bushaltestelle (eine Fläche Zweiter Ordnung, die sich, so man sie schneidet, aus Hyperbeln oder Parabeln zusammensetzt) nur 5,5 Zentimeter dick, insgesamt ist das Ding mit seinen herausfordernd gehobenen Flügelchen eine prächtige kleine Architekturskulptur, die man sich gerne vor Ort näher anschauen würde.

An den Ufern des ungarischen Plattensees standen - zumindest noch wenige Jahre nach dem Stacheldrahtfall - ganz ähnliche, erstaunliche Gebilde: Wartehäuschen, Unterstände, sogar Kinderspielplatzüberdachungen in feinster Torkret-Beton-Schalentechnik, wie man sie im Westen eigentlich nie gesehen hat. Vielleicht stammten auch sie von Ulrich Müther? Oder von einem Epigonen? Eine DDR- Ungarn-architekturhistorische Recherche erscheint lohnend.

Doch zurück zu den in "Featherweights" dokumentierten Müther-Häusern: Ebenfalls aus Torkret-Beton formte der DDR-Architekt das Dach eines Touristenrestaurants in Warnemünde (1968). Es schaut zwar jetzt schon ein wenig heruntergekommen aus, beeindruckt konstruktiv jedoch mit einer Deckenstärke von gerade einmal sieben Zentimetern: wahrhaftig ein Federgewicht. Und weil sie so schön sind, die Müther-Dinger, noch ein kleines Schmankerl: Das Strandwächterhaus in Binz (Baltikum) aus den späten 70er-Jahren sieht aus wie das Bazillum aus Hoimar von Dithfurths "Im Anfang war der Wasserstoff" - Eine flache Bubble mit rundlichen Fenstereinschnitten, frech aufgestelzt auf ein zentrales Bein.

Laut Herwig antwortet Müther, wenn man ihn nach dem Geheimnis seines Beton-Erfolges fragte, mit dem in Pommern offenbar gängigen Satz: "Arbeite hart und rede nicht viel."

Selbstverständlich fehlen auch Frei Ottos feine gespannte Membranenkonstruktionen nicht, gezeigt werden etwa Archivaufnahmen von Arbeitsmodellen, die schließlich zu Meilensteinen wie dem Expo-Pavillon von Montreal (1967) und dem Olympiapark München (1972) führten. Experimentiert wurde damals mit Drahtgerüsten, Seifenwasser und Damennylonstrümpfen - alles Hilfsmittel, die in den Modellbauwerkstätten der Universitäten und Architekturbüros heute noch hochmodern sind.

Die zeitgenössischen Federgewichtkonstrukteure greifen selbstverständlich auf das Fachwissen ihrer Vorgänger zurück, sie haben jedoch technisch verfeinerte Hilfsmittel zur Verfügung: Kunststoffmembranen überspannen mithilfe hochtechnologisierter Spannsysteme große Weiten, wie es Klaus Latuskes Musical-Zelt in Hamburg veranschaulicht, luftgefüllte, also pneumatische Elemente halten rasch aufblasbare Hallen in Form, wie Axel Thallemers Airtecture Halle oder sein Airquarium zeigen (das RONDO berichtete).

Letzteres stellt eine Kugelkalotte dar mit einem Durchmesser von 32 Metern. Die Membran ist semitransparent, ein wassergefüllter Schlauch rundum sorgt für Verankerung. Leicht, preisgünstig, rasch auf- und abbaubar, leicht transportierbar.

Leichtigkeit, das bedeutet für Herwig auch industrielles Vorproduzieren und rasches Assemblieren vor Ort. Ein Beispiel aus den heimischen Architekturwerkstätten ist Johannes und Oscar-Leo Kaufmanns Su-Si-Holzhaus (1998), das zwar zwölf Tonnen wiegt, mit seinen Holz-Glas-Elementen dennoch leicht wirkt und alle Vorzüge intelligenter Holz- und Architekturkunst veranschaulicht. Aufgestellt ist das Ding in wenigen Tagen.

Oliver Herwig rundet sein Buch mit diversen Ausflügen in die Computerarchitekturwelt, in Simulationsuniversen und sogar in den vom Menschen eroberten Weltraum ab. Zum Abschluss der Versuch eines Federgewicht-Glossars, das die verschiedenen Möglichkeiten und Ansätze dieser mannigfaltigen Disziplin in eine Ordnung bringen will.

Ein interessantes Buch, gut zu lesen, informativ und reichhaltig; ein mit publizistischer Leichtigkeit gekonnt gespannter Bogen über Zeiten, Konstrukteure und Materialien. (DER STANDARD, Printausgabe vom 17./18.5.2003)