Der Vorsitzende der Münchner Sicherheitskonferenz Wolfgang Ischinger war am Mittwoch für einen Vortrag bei der Außenpolitischen Gesellschaft in Wien zu Besuch.

Foto: Matthias Cremer

 Der Tod Osama Bin Ladens könnte den Umbruch in den arabischen Ländern beflügeln, hofft der deutsche Diplomat Wolfgang Ischinger im Gespräch mit Christoph Prantner.

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STANDARD: Nach der Tötung Osama Bin Ladens sind viele der Meinung, dass der militante Islamismus in die Defensive geraten ist. Sind die Jihadisten tatsächlich keine große Bedrohung mehr?

Ischinger: Eine Antwort darauf kann heute niemand mit abschließender Sicherheit geben. In der Außen- und Sicherheitspolitik müssen wir immer vom "worst case" ausgehen. Der Tod Bin Ladens stellt vermutlich eine gewisse Schwächung Al-Kaidas dar, gleichzeitig aber werden die Bemühungen der verbliebenen Al-Kaida-Führung dadurch wohl beschleunigt werden, unter Beweis zu stellen, dass man nach wie vor handlungsfähig ist. Ich würde davon ausgehen, dass wir in den kommenden Wochen und Monaten eher mit mehr als mit weniger Anschlägen rechnen müssen.

STANDARD: Der genaue Ablauf der Kommandoaktion ist nach wie vor unklar, über eine kaltblütige Exekution wird spekuliert. Ist das nicht die beste Grundlage für die Ikonisierung Bin Ladens?

Ischinger: Der etwas allgemein als arabischer Frühling bezeichnete Umbruch hat die aggressiven antiwestlichen Ressentiments in den arabischen Ländern in den Hintergrund gedrängt. Aus unserer Sicht ist es erfreulich, dass sich die arabische Welt mit sich selbst, mit Missständen im eigenen Lager zu befassen bereit ist und nicht die Schuld für alle Übel in der Welt bösen Zionisten oder Amerikanern zuweist. Man muss in der Tat fürchten, dass die Fundamentalisten versuchen werden, die Tötung zu benutzen, um die Stimmung in der arabischen Welt wieder in den Status quo ante kippen zu lassen. Meine Erwartung ist dennoch optimistisch: Ich habe den Eindruck, dass die junge Bevölkerung von Ägypten, in die Golfstaaten bis nach Syrien in den vergangenen Wochen nicht mehr in Schuldzuweisungen an Israel ergeht. Es würde mich also sehr wundern, wenn es zu einem Backlash kommen würde. Ich habe die Hoffnung, dass der arabische Frühling durch den Tod Bin Ladens nicht gestoppt, sondern zu einer weiteren Blüte gebracht wird.

STANDARD: Das ist sehr optimistisch ...

Ischinger: Man muss kein großer Experte für die Region sein, um eines zu verstehen: Zum ersten Mal in Jahrzehnten erkennen junge Menschen dort, dass sie eine realistische Möglichkeit haben, ihre Zukunft selbst zu bestimmen. Das ist eine enorme Chance. Ob sie von Dauer ist, kann man nicht vorhersagen. Genauso wie die besten Experten den arabischen Frühling nicht vorhersehen konnten.

STANDARD: Was kann der Westen tun, um diese Selbstermächtigung effizient zu stützen? Sind Militärinterventionen wie in Libyen dabei nicht eigentlich kontraproduktiv?

Ischinger: Das ist die Kernfrage. Es müssen drei Kriterien vorliegen, bevor man über das "wie" einer Intervention zu diskutieren beginnen soll: Es muss ein UN-Mandat geben, es muss die betroffene Region eingebunden werden und es müssen unsere eigenen Interessen bedroht sein, die ausdrücklich nicht nur kommerzieller Natur sein können. In diesem Fall lagen diese drei Voraussetzungen zum Zeitpunkt der UN-Mandatierung vor. Der wichtigste Punkt ist: Solange die Region, die Staaten der Arabischen Liga der Meinung sind, dass weiter interveniert werden sollte, ist es richtig. Punkt zwei: Es darf bei einem solchen Vorgehen, nie der Eindruck erweckt werden, dass wir den Libyern das Heft aus der Hand nehmen. Die Libyer müssen ihr Schicksal selbst bestimmen. Wir dürfen nichts tun, was deren eigene Reformfähigkeit untergräbt.

STANDARD: Wie beurteilen Sie den Fortschritt der Intervention selbst?

Ischinger: Skeptisch. Es war vorhersehbar, dass diese Operation problematisch sein wird, wenn sie nur aus der Luft durchgeführt wird. Die Lektionen, die wir im Kosovo und in Bosnien gelernt haben, sind: Kollateralschäden sind nicht zu vermeiden. Und der Gegner wird Wege finden, um sich den Luftschlägen zu entziehen. Für alle Fachleute war klar, dass es keinen schnellen Erfolg geben wird. Man kann nur hoffen, dass Gaddafi wie Milošević nach drei Monaten aufgibt. Aber das Prinzip Hoffnung ersetzt keine militärische Strategie.

STANDARD: Wie wird dieses Abenteuer ausgehen?

Ischinger: Es liegt im Interesse aller Beteiligten, dass der militärische Konflikt möglichst rasch zu Ende geht. Unter diesen Umständen halte ich es für richtig, dass die beteiligten Staaten ihr Mandat breit auslegen. Es muss jetzt das Ziel sein, die Sache zur Entscheidung zu bringen. Mit jedem Monat wächst der Spaltpilz in der Internationalen Gemeinschaft und vor allem in der Arabischen Liga.

STANDARD: Was für Konsequenzen wird die uneinige Haltung zu Intervention für Europa haben?

Ischinger: Der Groll gegen die Staaten, die Nato und EU in diese Aktion gezwungen haben, ist vermutlich so groß wie jener gegen die zurückhaltenden Deutschen. Wir alle, auch die USA, haben ein Prinzip verletzt, das Grundlage allen militärischen Handelns sein muss: In together, out together. Im Fall Libyens ist dieses Prinzip mehrfach verletzt worden. Dennoch muss die Aktion gemeinsam zum Erfolg geführt werden. Eine Bauchlandung in Libyen wäre eine Bauchlandung aller – der Europäer und der Amerikaner.  (DER STANDARD, Printausgabe, 6.5.2011)