Normalerweise ist in der Politik jede Koalition zwischen Parlamentsparteien erlaubt. Für einen großen Teil der österreichischen Öffentlichkeit galt das lange Zeit nicht. Es gab eine moralisch begründete Sperre gegenüber einer Zusammenarbeit mit der Haider-Partei.

Wolfgang Schüssel hat sie durchbrochen, Österreich wurde deshalb im Jahre 2000 mit EU-Sanktionen bestraft, die Republik selbst verfiel in zwei Lager. In der SPÖ kam nicht zuletzt Alfred Gusenbauer an die Macht und nicht der Innenminister der Regierung Klima, Karl Schlögl, der sich damals eine rot-blaue Regierung vorstellen konnte.

Embargo beenden

Jetzt, da das Land - in einer Sach- und Prinzipienfrage - wiederum gespalten ist und zum ersten Mal seit 50 Jahren von flächendeckenden Streiks erschüttert wurde, sorgt Gusenbauer für eine Kehrtwende und beendet das mehr als 15-jährige Embargo der Sozialdemokratie gegenüber den Freiheitlichen.

Die SPÖ-Spitze macht Schluss mit der von Franz Vranitzky erfundenen und mit antifaschistischen Argumenten unterfütterten "Ausgrenzung" Jörg Haiders. Vranitzkys Gründe waren moralische, weshalb die Wende seines Nachfolgers als Sündenfall gewertet werden kann.

Intellektuelle verteidigen Volte

Die Intellektuellen rund um den SPÖ-Vorsitzenden sehen das offenbar nicht so. Sowohl Josef Broukal als auch André Heller verteidigen die überraschende Volte. Heller: "Haider hat schon so viel Grauenhaftes gemacht - es wird Zeit, dass er etwas Anständiges tut." Nämlich zusammen mit der SPÖ die Pensionsreform der Schwarz-Blauen zu kippen - und damit möglicherweise auch gleich die Regierung. Könnte daher Hellers Satz rückwirkend nicht genauso für Wolfgang Schüssel gelten, der vor drei Jahren ein überlebtes politisches System zerstört und Österreich de facto die "Dritte Republik" beschert hat?

Sicherlich nur mit Einschränkungen. Denn eine parlamentarische Mehrheit zwischen FPÖ und SPÖ, der sich auch die Grünen anschließen müssten, um Schüssels neoliberales Reformwerk zu verhindern, ist noch keine "Wende" der Wende. Ist noch keine neue Koalition, keine Wiederauflage von Sinowatz/Steger unter anderen Vorzeichen. Aber die Tür ist geöffnet. Weshalb die eine Frage zu stellen ist: Heiligt der Zweck die Mittel? Und die andere: Darf Gusenbauer, wofür man Schüssel gescholten hat? Österreichs Literatur- und Philosophiebischöfe haben sich noch nicht geäußert. In Sachen Schüssel jedenfalls waren sie schneller.

"Entmachtung de Sozialpartner"

Wolfgang Gusenbauer folgt dem Bundeskanzler in einem zweiten Punkt. Er hat zwar mit den ÖGB-Demonstranten den Wolkenbruch über Wien tapfer durchgehalten, aber seine Avancen gegenüber Haider sind ein Beitrag zur Entmachtung der Sozialpartner und die Bestätigung der Schüssel-These, dass die umstrittene Reform "nicht auf der Straße, sondern im Parlament" entschieden werde.

Der Druck der Basis ist auch dem SPÖ-Chef zu schwach, das Gewerkschaftsfeuer zu klein, er sucht den Pakt mit dem bisherigen Teufel. Gusenbauer ist kein Dr. Faust, das Spiel mit Mephisto umso gefährlicher.

EU-Bazillus

Möglicherweise ist die Crew in der Löwelstraße vom EU-Bazillus angesteckt worden. Obwohl das Berlusconi-Regime in Italien für die europäische Demokratie mehr Gefahren birgt als das schwarz-blaue in Österreich, hat man sich in Brüssel vor dem offiziellen Rechtspopulismus längst geduckt. Es gäbe also kein triftiges Argument mehr, einen Regierungseintritt Jörg Haiders zu beeinspruchen.

Bedeutet das einen Persilschein für Rot-Blau in Wien? Sicher. Aber zu einem Koalitionsangebot mag sich Gusenbauer noch nicht versteigen. Seine Interviewdementis jedoch sind derart weich, dass nach den nächsten Wahlen, wann immer sie hereinbrechen, alles möglich ist.

Hat noch jemand die Fackelreste des Lichtermeeres aufgehoben? Erinnert sich noch jemand an die riesige Demo gegen Schwarz-Blau auf dem Heldenplatz? Kerzen sind zu Spargel mutiert. Prosit und guten Appetit. (DER STANDARD, Printausgabe, 19.5.2003)