Foto: Lebenshilfe
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Ratlosigkeit an der Obstwaage, keine Chance, das Tiefkühlregal zu öffnen, und unleserliche Aufschriften: Mit der Barrierefreiheit von heimischen Supermärkten ist es nicht weit her. (Stills aus dem Kurzfilm "Einkaufen ohne Hindernisse")

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Die Sache mit den Lupen brachte Nicole Berkmann schließlich doch noch zu einem guten Ende. Die Spar-Unternehmenssprecherin berichtete am Donnerstag ganz am Schluss einer Podiumsdiskussion zum Thema "Einkaufen ohne Hindernisse" davon, dass ihre Firma mittlerweile kleine Lupen im Scheckkarten-Format an den Kassen zum Kauf anbiete (49 Cent), damit sehschwache Kunden zu klein gedruckte Texte mit verminderter Mühe entziffern können. Mit größeren Lupen, die an den Einkaufswägen angebracht waren, hatte man zuvor leider keine guten Erfahrungen gemacht: "Die wurden zerkratzt, kaputt gemacht oder gestohlen." Die neue Lösung funktioniere aber recht gut, und auch die Kunden würden sie sehr gut annehmen.

Paradeiser statt Bananen

Nicht jedes Problem, das Menschen mit körperlicher oder intellektueller Beeinträchtigung in Supermärkten haben, lässt sich leider so rasch lösen. Regelrecht "sprachlos", so Berkmann, habe sie jedenfalls der Film gemacht, der von der Lebenshilfe in einer Wiener Spar-Filiale gedreht wurde und am Anfang der Diskussionsveranstaltung im Wiener ÖGB-Gebäude gezeigt wurde: Zu sehen ist hier etwa, wie die im Rollstuhl sitzende Sylvia Zagler den Griff eines Kühlregals nicht öffnen kann, weil sie wegen der darunter befindlichen Gefriertruhe einfach nicht weit genug herankommt. Der intellektuell beeinträchtigte Manfred Holub hat Probleme, bei der Obstwaage die richtige Taste zu finden - er druckt statt des Preispickerls für Paradeiser ein solches für Bananen aus.

Viele andere Barrieren, deren sich der gewöhnliche Supermarkt-Kunde oft gar nicht bewusst ist, wurden in der Veranstaltung offenbar. Ein großes Problem sind etwa zu enge Gänge für Rollstuhlfahrer, insbesondere im Kassenbereich. Einkaufswagen der anderen Kunden blockieren manchmal die Wege, Regale sind zu hoch, die Produkte also zu weit oben - oder fallweise auch zu weit unten. Wer im Rollstuhl sitzt, dem sind andererseits auch die Einkaufswagen zu hoch, kleinere bzw. niedrigere wären von Vorteil.

"Mehr als die Abwesenheit von räumlichen Hindernissen"

Spar-Sprecherin Berkmann und Rewe-Group-Vertreter Alfred Matousek waren durchaus beeindruckt von der Komplexität dieser Schwierigkeiten. Einschlägige Arbeitsgruppen würden zwar seit geraumer Zeit in beiden Unternehmen bestehen, und diese würden auch mit Betroffenen zusammenarbeiten, erklärte Berkmann. Allerdings sind meist "nur" Körperbehinderte in diese Überlegungen involviert, keine intellektuell Beeinträchtigten. "Barrierefreiheit ist aber viel mehr als die Abwesenheit von räumlichen Hindernissen", erklärte Hansjörg Hofer, Leiter der Abteilung "Integration von Menschen mit Behinderungen" im Sozialministerium.

Matousek berichtete, dass etwa die Herstellung räumlicher Barrierefreiheit bei neuen Filialen auf der grünen Wiese mittlerweile "selbstverständlich" sei, dass es bei älteren Objekten oder im eng bebauten Gebiet aber oft problematisch sei, Barrierefreiheit herzustellen. Signalknöpfe an Eingängen für den Fall, dass jemand beim Betreten des Supermarkts Hilfe benötigt, würden bei mancher modernisierten Filiale beispielsweise schon existieren.

Genau ohne diese fremde Hilfe auskommen zu können sei es allerdings, was die Barrierefreiheit laut Gesetz unter anderem ausmache, erklärte Hofer: Dienstleistungen müssten demnach für jedermann "in der allgemein üblichen Weise", "ohne besondere Erschwernisse" und eben "ohne fremde Hilfe" nutzbar sein. Falls nicht, könnten Betroffene rein rechtlich betrachtet Schadenersatz verlangen. Dies wolle aber eigentlich niemand, viel wichtiger sei die Bewusstseinsbildung.

Wahrnehmung, Bewusstseinsbildung

Diese Ansicht vertrat auch Bernhard Schmid, Generalsekretär der Lebenshilfe Wien. Die Umsetzung von Barrierefreiheit sei vor allem auch Kopfsache: "Nimmt man den Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung als gleichwertigen Kunden wahr, oder nicht?"

Große Aufgaben kämen hier dem Personal in den Märkten zu. Sowohl bei Spar als auch bei Rewe habe man bereits Schulungen durchgeführt, wann und wie Hilfsbedürftigen zur Hand zu gehen sei. "Gerade junge Mitarbeiter haben da sehr oft Berührungsängste", berichtete Berkmann. Manchmal bewahren diese aber auch davor, Ungebotenes zu tun: "Als Kassen-Mitarbeiter darf man beispielsweise Niemandem in die Geldbörse greifen."

Glockengeläut, Radiogedudel

"Ganz ohne fremde Hilfe wird es nicht gehen", zeigte sich Rewe-Mann Matousek eher skeptisch, was das "barrierefreie Einkaufen" in Österreich betrifft. Und anstatt etwa ein Dutzend Klingeln im ganzen Supermarkt zu installieren, damit Hilfsbedürftige damit nach Unterstützung rufen können, sei es besser, wenn die Betroffenen gleich jemanden vom Personal ansprechen würden. "Denn sonst muss man ja erst einmal mühsam herausfinden, wo da überhaupt die Glocke geläutet wurde."

Von einem Betroffenen im Publikum wurde Matousek darauf hingewiesen, dass nicht weniger als 21 Prozent der Österreicherinnen und Österreicher zu den Schwerhörigen zu zählen seien, und es für diese bei dem manchmal zu lauten Gedudel in den Supermärkten schwer sei, etwa mit den Mitarbeitern an der Fleischtheke zu kommunizieren. Matousek hielt dem entgegen, dass man ja unmöglich die anderen 80 Prozent der Kunden ausschließen könne - etwa davon, die Angebote im hauseigenen Supermarkt-Radio zu hören. Er könne sich aber vorstellen, das Einkaufsradio selbst auch barrierefrei zu machen, erklärte er - ohne diesen Gedanken näher auszuführen. Generell warnte der Umwelt- und Nachhaltigkeitsmanager von Rewe davor, "Stigmatisierungen" zu betreiben - beispielsweise, indem eigene Kassen nur für Rollstuhlfahrer geschaffen werden. "Besser sollten möglichst alle Kassen auch rollstuhlgerecht sein."

Großer Wunsch, kleine Schritte

"Grundsätzlich vorstellbar", diese Worte hörte das Publikum sehr oft von den beiden Handels-Vertretern - ob es nun um "Leitsysteme" am Boden, die angesprochenen Klingeln in den Supermärkten oder den ebenfalls öfters gehörten Wunsch nach kleineren Verpackungseinheiten ("viele Menschen leben nämlich allein") ging. Dass man deshalb schon tatsächlich völlig barrierefrei in heimischen Supermärkten einkaufen wird können, darf allerdings bezweifelt werden.

Immerhin habe der Wunsch nach einem "selbstbestimmten Leben" der Betroffenen erst vor rund zehn bis fünfzehn Jahren so richtig zu reifen begonnen, meinte Hansjörg Hofer vom Sozialministerium. Nach und nach werde diesem Wunsch nun von der Verwaltung bzw. der Gesellschaft nachvollzogen - sei es in Form von Gesetzen, oder eben in kleinen, fast unmerklichen Errungenschaften, die den Beeinträchtigten das Leben wieder ein Stückchen erleichtern. Die kleinen Lupen im Scheckkarten-Format in den Spar-Filialen wurden am Donnerstag, dem europaweiten "Protesttag zur Gleichstellung behinderter Menschen", jedenfalls als eine solche Verbesserung gewürdigt. (Martin Putschögl, derStandard.at, 5.5.2011)