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Russland wie es liebt und lacht: Platonov (Martin Wuttke) bezirzt die junge Grekova (Yohanna Schwertfeger).

Foto: Prammer/APA

Wien - Anton Tschechows Jugendwerk Platonov (1879) erzählt die nicht weiter außergewöhnliche Geschichte eines unmöglichen Menschen: Der russische Dorfschullehrer Platonov (Martin Wuttke) begräbt seine ehemals schönen Hoffnungen auf ein von Sinn erfülltes, tätiges Leben unter einem Wust von Abenteuern. Anstatt "Lord Byron" oder wenigstens "Minister für besondere Angelegenheiten" geworden zu sein, wie es einmal heißt, zieht er lieber die Begehrlichkeiten provinzadeliger Damen auf sich.

Er bricht die Herzen im Vorübergehen. Nur kann er eben leider nicht abhauen: Regisseur Alvis Hermanis hat ihm im Wiener Akademietheater vorsorglich alle Fluchtwege versperrt. Die Bühne von Monika Pormale ist das bröckelnde Luxusgefängnis des "Moskauer Künstlertheaters" von 1910. Die Kunstabsicht meint "Naturalismus" - das Ergebnis gleicht eher einer beflissenen Abpaus-übung. Der Querriss durch die hochverschuldete Wirtschaft der Generalswitwe Anna Petrovna (Dörte Lyssewski) entblößt den Plunder einer zum Tode verurteilten Gesellschaft. Honiggelbes Licht durchflutet den spinatgrün tapezierten Salon. Ölgemälde dunkeln vor sich hin, man meint, den Holzwürmern bei der Arbeit zuzuhören.

Platonov verströmt denn auch den verwegenen Charme des bürgerlichen Klassen-Clowns. Die wenigen Haarsträhnen nach hinten gekämmt, der Anzug wüst zerknittert, hüpft Wuttke wie ein offenes Messer in diese trostlos museale Quatschbude. Ein Flöten und Wispern weht über die Terrasse, die Pormale tadellos in Holz eingekleidet hat. Wucherer und Kolonialwarenhändler hocken hier bereits frühmorgens zeitungslesend zu Besuch (Franz J. Csencsits). Jüdische Kapitalisten mit mächtigen Zylindern (Michael König) taxieren still und übelwollend den Wert der unausweichlich an sie fallenden Besitztümer.

Ist der innere Applaus für die gelungene Innenarchitektur erst einmal abgeklungen, bestürmen einen Zweifel, die sich während fünf Stunden zusehends verschlimmern. Wäre es möglich, dass Hermanis' wunderschöne Bastelarbeit bloß das Äquivalent zu einer Kapitulation bildet? Dass der lettische Regisseur vor Tschechows gesellschaftspolitischer Lockerungsübung die Waffen gestreckt hat?

Akustisches Verwehen

Nichts Entscheidendes gibt es zu bemängeln: Das Verwehen der Dialoge, die oft genug im Holzimitat steckenbleiben oder hinter Glasscheibenfronten folgenlos verhallen, hat Hermanis ordnungsgemäß angekündigt. "Dass Sie einige Texte akustisch nicht verstehen werden, liegt nicht an den Schauspielern, sondern ist Teil meines künstlerischen Konzepts", lässt er vor Beginn des Stücks durch den Lautsprecher verlauten.

Natürlich liegt etwas Frivoles in der Ungezwungenheit, mit der sich die provinziell Bornierten über Gott und die Welt austauschen: Sonntagsredner wie Glagoljev (Peter Simonischek), die, gut eingewickelt in das Papier ihrer Kalendersprüche, mit tollkühn aufgerissenen Augen um die Dame des Hauses buhlen. Simonischek spielt die Tragödie der Altersimpotenz hinreißend. Schwächlinge wie Anna Petrovnas Stiefsohn (Philipp Hauß), der sich wie die Raupe Nimmersatt von Brotzeit zu Brotzeit frisst, ohne zu merken, wie die frisch Angetraute (Johanna Wokalek) mit knisterndem Seidenkleid an dem Wüstling Platonov festklebt.

Die Handlung nimmt knapp 24 Stunden in Anspruch: Ein Tag verweht, stürzt kopfüber in ein nächtliches Fest samt kollektivem Besäufnis hinein, in dessen Verlauf sich Platonov von seiner ungeliebten Gemahlin, der wunderhübsch unbeholfenen Sascha (Sylvie Rohrer), löst und nicht weniger als drei Damen nach- und durcheinander den Kopf verdreht.

Die Tragödie dieses Mannes, der von den Angeschmachteten durch vier, fünf Glasfilter hindurch wie ein achtes Weltwunder bestaunt wird, liegt in einem einzigen, allerdings beklagenswerten Umstand: Platonov kommt nicht zum Rauschausschlafen. Das eine Mal schwatzt ihn sein ironisch näselnder Arzt-Freund Trileckij (Martin Reinke) voll. Zu anderer Gelegenheit erklärt sich ihm ein jüdischer Student (Fabian Krüger), der sich doch immerhin auf die Einsicht versteift, Goethe sei ein mosaischer Autor gewesen.

Neben der patenten Pragmatik von Lyssewskis Generalswitwe verblassen die Gänschen (Yohanna Schwertfeger) und die Hysterikerinnen (Wokalek). Die Nacht rutscht in einen Gewittermorgen hinüber: Platonov beknirscht sich als reuiger Sünder, dessentwegen die Frauen Koffer gepackt und bittere Tränen vergossen haben. Der rechtschaffen Verkaterte zieht ein Gewehr unterm Sofa hervor, legt es quer über den Sesselplüsch und harrt vor der Terrassentür des finalen Schusses. Tot war nur leider vorher schon die Inszenierung. Respektvoller Applaus für ein paar hübsche Episoden. (Ronald Pohl/ DER STANDARD, Printausgabe, 9.5.2011)