Einhundertneunundzwanzig Sitze hat der Landtag von Edinburgh, eine Regierungsmehrheit braucht also 65 Abgeordnete. Nichts hätte den sensationellen Erdrutschsieg der Nationalisten in Großbritanniens Nordprovinz vergangene Woche besser illustrieren können als Mandat Nummer 65: Ausgerechnet der Wahlkreis Kirkcaldy, gegenüber der Hauptstadt Edinburgh am Firth of Forth gelegen, lieferte Ministerpräsident Alex Salmonds Scottish National Party (SNP) die ersehnte Mehrheit. Bisher galt Kirkcaldy als uneinnehmbare Labour-Hochburg, der Unterhaus-Abgeordnete hört auf den Namen Gordon Brown und war bis vergangenen Mai Premierminister in London.

Die Demütigung im eigenen Hinterhof für den Paten der schottischen Labour-Party stellt für dessen Nachfolger im britischen Parteivorsitz, Edward Miliband, ein ernsthaftes Problem dar: Wenn sich die Labour-Party im Norden nicht rasch erholt, kann Miliband einer Mehrheit in London auf Dauer Ade sagen.

Eigentlich Anlass zur Freude für den konservativen Parteichef David Cameron. Doch der Premier sieht sich plötzlich mit einer alarmierenden Möglichkeit konfrontiert: der Schrumpfung des Vereinigten Königreichs zu Groß-England. Tatsächlich ging der alte und neue Ministerpräsident umgehend gegenüber London in die Offensive: Er kündigte eine Volksabstimmung über die Unabhängigkeit an. Ein Aufschrei der Empörung aus London käme dem Strategen Salmond gerade recht. In der vergangenen Wahlperiode legte seine Minderheitsregierung dem Landtag ein Referendums-Gesetz vor, das die unionstreuen Parteien prompt zu Fall brachten.

Cameron taktiert geschickter. Artig gratulierte er dem Schotten zur Wiederwahl und gab sogleich seine Zustimmung für größere Finanzkompetenz. Auch dem Referendum werde die konservativ-liberale Regierung nicht im Weg stehen. Gleichzeitig machte Cameron aus seiner Entschlossenheit kein Hehl: "Ich werde mit jeder Faser für die Union kämpfen."

Allerdings: Während diesmal 45 Prozent der Wähler die SNP bevorzugten, sprechen sich die vorsichtigen Schotten in Umfragen stets mit deutlicher Zweidrittel-Mehrheit für die 304 Jahre alte Union mit England aus. Ministerpräsident Salmonds Partei müsste ein Wunder gelingen, wenn sie diese gefestigte Meinung kippen will. Ein Wunder, vergleichbar der Überraschung von Kirkcaldy. (sbo/DER STANDARD, Printausgabe, 9.5.2011)