Der Stoff, aus dem nationale Mythen sind: Ali und Nino auf einem Bild, das im gleichnamigen Café in Baku hängt;

Foto: Montik

... davor die Linguistin Könül Samedowa.

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Für Kaukasus-Reisende ist der Roman Ali und Nino fast eine Pflichtlektüre. Es geht um die Liebe des jungen Aseris (Aserbaidschaners) Ali aus dem Schah-Geschlecht zur georgischen Prinzessin Nino vor dem Hintergrund der Ereignisse der bolschewistischen Revolution in Baku. Die Liebe der Christin Nino zum Muslim Ali findet ihren Höhepunkt in der Zeit der politischen und gesellschaftlichen Umwälzungen, als die Aserbaidschanische Demokratische Republik gegründet wurde, um dann zwei Jahre später ihre Unabhängigkeit wieder einzubüßen.

Ali und Nino ist zum ersten Mal 1937 im Wiener E. P. Tal Verlag auf Deutsch erschienen. Lange Zeit wurde angenommen, dass sich hinter dem Pseudonym des Romanautors Kurban Said die Wiener Publizistin Elfriede Ehrenfels und der aus Baku emigrierte und zum Islam konvertierte russische Jude Lew Nussimbaum, genannt Essad Bey, verbargen. Doch eine jüngst veröffentlichte Studie beweist, dass der Hauptautor dieses inzwischen in 33 Sprachen übersetzten Romans der aserbaidschanische Schriftsteller Jusif Vazir Tschamansaminli ist.

Die Recherche um die Autorenschaft von Ali und Nino dauerte sechs Jahre. Sie wurde von Betty Blair, der Chefredakteurin des in den USA erscheinenden Magazins Azerbaijan International (AI), initiiert. Könül Samedowa, Mitglied des Teams von AI, erzählt mit Stolz, sie und ihre Kollegen hätten zum ersten Mal kultur- und länderübergreifend eine Studie über Essad Bey, Elfriede Ehrenfels und Jusif Vazir durchgeführt, die dann in zehn Sprachen publiziert wurde. Auf den Spuren der Romanautoren wurde in Aserbaidschan, Georgien, Italien, Frankreich, Deutschland, den USA, in der Türkei und in Österreich recherchiert, wobei eine immense Zahl von Archivmaterialien studiert und mehr als 60 Personen interviewt wurden, von einfachen Zeitzeugen bis hin zu renommierten Wissenschaftern. Das Ergebnis der Arbeit wurde den Lesern im vergangenen Herbst in einer Sonderausgabe von AI präsentiert.

Niemand kennt die Schauplätze der Romanhandlung besser als die Linguistin Könül Samedowa, die die meisten davon während ihrer aufwändigen Archivarbeit in Baku selbst eruiert hat: die Häuser der noblen Familien Kipiani und der Schirwanschir, die Schulen, die Ali und Nino besucht haben, das Haus, wo Ali Khans Schulabschlussfeier stattfand, das Versammlungshaus der Bakuer Ölbarone, wo sie die wichtigsten Ereignisse jener Zeit voller Wirren rege diskutierten, den ehemaligen Gouverneursgarten, in dem sich Ali Khan und Nino heimlich trafen, und viele andere.

"Fingerabdrücke"

Die 29-jährige Könül Samedowa war die Erste, die es schaffte, in den Bakuer Archiven viele bisher unbekannte private Daten über Lew Nussimbaum ausfindig zu machen. "Wir haben festgestellt, dass sich Nussimbaums Schulzeit in Baku auf definitiv zwei Jahre beschränkte, dass er der aserbaidschanischen Sprache nicht mächtig war und im Jahre 1920 Baku mit 14 Jahren verlassen hat, um es nie wieder zu sehen", erzählt Könül. "Dagegen wurde Ali und Nino von jemandem geschrieben, der Baku und das Leben dort in jener Zeit bis ins kleinste Detail kannte. Der Hauptautor war niemand anderer als der um 18 Jahre ältere Jusif Vazir Tschamansaminli. Nussimbaum hat im Buch lediglich seine 'Fingerabdrücke' hinterlassen, vielleicht die Erzähllinie etwas verändert."

Laut Samedowa beschreibt Tschamansaminli in Ali und Nino viele eigene Erfahrungen, wie etwa seine Karriere als Diplomat, als er - wie auch Romanheld Ali Khan - als erster Botschafter der Aserbaidschanischen Demokratischen Republik in der Türkei arbeitete. Nach dem Ende der Republik blieb Tschamansaminli in der Türkei arbeits- und heimatlos zurück, bevor er seinem Bruder nach Paris nachreiste.

Dort dürfte er das Manuskript aus materieller Not einem der sogenannten Literaturmittler verkauft haben. Wie erfolgreich sein Buch im Nachhinein geworden ist, dürfte er nie erfahren haben. 1926 kehrte er ins sowjetische Aserbaidschan zurück. Nach leidvollen Jahren, mit Publikationsverbot belegt, kam er 1943 in einem stalinistischen Lager bei Moskau ums Leben. Ungeklärt bleibt, wie Nussimbaum alias Essad Bey an das Manuskript kam.

Die Rolle der Wiener Publizistin Elfriede Ehrenfels gehöre noch weiter erforscht, sagt Betty Blair. Blair berichtet, Elfriede Ehrenfels' Nichte, Leela Ehrenfels - Besitzerin des Copyrights für Ali und Nino - in ihrem Familienschloss in Lichtenau besucht und festgestellt zu haben, dass es dort nichts gegeben habe, was auf eine enge Beziehung von Elfriede zum Kaukasus oder zu Aserbaidschan hingedeutet hätte. Die Wahrheit ist, dass Ehrenfels für Essad Bey das Pseudonym Kurbain Said beim Literaturregister anmeldete, da er als Jude sonst mit den Verlegern Probleme bekommen hätte. Möglicherweise habe sie ihm auch geholfen, das Buch sprachlich zu polieren. Mit Elfriedes Mann, Rolf Omar Ehrenfels, dürfte Essad Bey viel mehr verbunden haben, da dieser ein berühmter Orientalist und ein konvertierter Muslim war.

Der Roman Ali und Nino, der im postsowjetischen Aserbaidschan erst in den 1990er-Jahren in russischer Übersetzung erscheinen durfte, ist in dem Land äußerst beliebt. In Baku gibt es sogar eine gleichnamige Buchhandlungs- und Literaturcafé-Kette. Deren Besitzerin Nigar Kotscharli glaubt, der Roman sei richtungweisend bei der Selbstidentifikation der aserbaidschanischen Nation heute und habe eine ganze Generation nach dem Zerfall der Sowjetunion geprägt. "Daraus lernen wir, was uns in der gesamten Sowjet-Geschichte zu wissen und auszusprechen verboten war: Unser Staat bestand zwar nur eine kurze Zeit, war aber dennoch unabhängig, und diejenigen, die um seine Unabhängigkeit kämpften, waren keine Banditen, sondern Patrioten und Helden." (Tatjana Montik aus Baku, DER STANDARD/Printausgabe 10.5.2011)