Fotos: Nicolas Gompel
Fotos: Nicolas Gompel

Die Rückenschilder der Insekten bildeten in den vergangenen 40 Millionen Jahren eine groteske Formenvielfalt aus.

Fotos: Nicolas Gompel

Nun stellen sich die Gebilde überraschend als drittes Flügelpaar heraus, das nicht mehr gebraucht wird.

Sie sehen aus wie ein Mini-Bumerang, wie die Hörner eines Stiers, wie ein Häufchen Vogelkot oder wie eine Ameise in Angriffsposition. Die bizarre Formenvielfalt der rund 3000 Buckelzirpenarten – nur drei davon kommen übrigens in Europa vor, die meisten leben in den Tropen – hat den Forschern viel Kopfzerbrechen bereitet.

Warum sollte sich die Natur eine solche Formenvielfalt ausdenken? Und woher stammen diese seltsamen Auswüchse am Rücken der Insekten, die wissenschaftlich Membraciden heißen?

Bisher galt dieser "Helm" als Auswuchs der Außenskelettplatten am ersten Abschnitt des Brustkorbs – ähnlich dem Horn des Nashornkäfers. Doch Entomologen vermuteten schon länger, dass mehr hinter den bizarren Rückenschildern steckt, da diese bei manchen Arten nach Berührung nachgaben.

Nun ging ein französisch-amerikanisches Wissenschafterteam unter der Leitung von Benjamin Prud'homme (vom Institut für Entwicklungsbiologie des CNRS in Marseille) der seltsamen Sache auf den Grund und machte eine spektakuläre Entdeckung, von der sie in der aktuellen Ausgabe des Wissenschaftsmagazins Nature (Bd. 473, S. 83) berichten.

Schon bei ersten Untersuchungen mit dem Elektronenmikroskop zeigte sich eine Art von winzigem Gelenksmechanismus, der die Rückenschilder links und rechts am vordersten Teil des Oberkörpers hält. Das wiederum war auch ein Anhaltspunkt dafür, das es sich bei den bizarren Buckeln um umgebildete Gliedmaßen handeln könnte, die bei Insekten so wie beim Menschen immer symmetrisch auftreten.

Fehlende Gen-Unterdrückung

Aber welche Art von Gliedmaßen konnten das sein? Um diese Frage zu beantworten, führten die Forscher Genanalysen durch. Und dabei zeigte sich, dass Teile der Hox-Gen-Familie, die normalerweise die Entwicklung von Flügeln im ersten Segment des Oberkörpers unterdrücken, das bei den Buckelzirpen nicht tun. Flügel wachsen bei allen anderen Insekten nur im zweiten und dritten Abschnitt.

Das wiederum bedeutet, dass die Membraciden die einzige noch lebende Insektengruppe bildet, die im Prinzip drei Flügelpaare besitzen, auch wenn das vorderste mit einem Flügel eher wenig zu tun hat. Früher dürften Insekten mehr Gliedmaßen besessen haben; das dritte Flügelpaar sei also gewissermaßen ein Relikt, das eben nicht wie bei allen anderen Arten unterdrückt wird.

Weil die Insekten es aber nicht zum Fliegen brauchen, konnte sich die Evolution gewissermaßen daran austoben. Warum sie das seit rund 40 Millionen Jahren tut, ist wieder eine andere Frage, die nach wie vor ungelöst ist. (Klaus Taschwer/DER STANDARD, Printausgabe, 11.05.2011)