Eva (Tilda Swinton, re.) findet keinen Zugang zu ihrem Sohn Kevin (Ezra Miller).

Foto: Festival du Cannes

Wer in Cannes erbauliche Themen sucht, steht auf verlorenem Posten. Denn auch im Arthouse- und Kunstkinobereich regieren längst jene marktstrategischen Überlegungen, die auf lange Aufmerksamkeitsspannen zielen - und hier gelten die düsteren Zonen der menschlichen Existenz einfach als effektiver. Man vertraut darauf, dass etwas zunächst richtig knallen muss, um sich ins Gedächtnis zu graben.

Die ersten Filme an der Croisette bestätigen das nicht unbedingt zum Guten. Julia Leighs Sleeping Beauty gibt sich bemüht kontroversiell. Der Film folgt einer jungen Frau in einen exklusiven Club, wo diese für sexuelle Dienste in Tiefschlaf versetzt wird. Doch der Ort bleibt eine künstliche Welt ohne Resonanz, die in formschönen Bildern eine Dekadenz behauptet, deren Anstößigkeit geradezu bieder wirkt.

Betörend scheitern

Der mit Spannung erwartete Wettbewerbsbeitrag der Schottin Lynne Ramsey, We Need To Talk About Kevin, ist immerhin inszenatorisch höchst ambitioniert, scheitert aber auf halber Strecke dabei, sein gewichtiges Sujet zu bändigen.

Visuell betörend ist der Beginn, der eine blutrot verschmierte Menschenmasse zeigt, aus der sich dann eine Frau in Erlöserpose herausschält. Retrospektiv, in fragmentarisch ineinander verschachtelten Szenen rekonstruiert der Film die Geschichte von Eva, deren Leben von ihrem eigenen Fleisch und Blut mutwillig zerstört wird. Mutterliebe wird hier in ihr Gegenteil verkehrt, gerät zum Fluch. Der eigene Sohn ist höchst suspekt. Ein Schreikind, das Presslufthammer übertönt, sich später weigert zu spielen, zu sprechen, um so zum gefühlskalten wie berechnenden Jugendlichen heranzuwachsen, der eine Wahnsinnstat begeht.

Horrorfilm-Fahrwasser

Schon der Filmtitel suggeriert ein Gesprächsangebot, das der Film jedoch nie einlöst, weil es zwischen den Protagonisten keine Basis gibt. Ramsey rüttelt mit diesem Setting zwar an einem Tabu, es gelingt ihr aber nicht, die so tief sitzende Entfremdung glaubwürdig zu erzählen. Alle Ambivalenzen sind bald aufgebraucht: Hat es Eva unterlassen, Kevin gegenüber ihre Autorität zu demonstrieren? Oder projiziert sie bloß ihre Frustrationen in ihn? Ramsey zielt auf eine Antwort hin: Das Kind ist einfach nur böse - das ist leider ein wenig banal und rückt den Film ins Fahrwasser von Horrorfilmen wie Das Omen. Zumindest Tilda Swinton vermag in der Hauptrolle als gepeinigte Mutter einmal mehr zu begeistern.

Gus Van Sant war es, der in Cannes mit Elephant schon einmal ungleich überzeugender von fehlgeleiteten Jugendlichen erzählte. Nun ist er mit Restless zurück, der die Nebenschiene Un Certain Regard eröffnet hat. Im Werk des 58-jährigen Regisseurs, das sich schon mehrmals neu ausgerichtet hat, zeigt diese romantische Ballade um zwei jugendliche Außenseiter eine spielerisch-traumwandlerische Seite, die allerdings mit einer irritierenden Portion Kitsch und Sentimentalität einhergeht.

Enoch (Henry Hopper) und Annabel (Mia Wasikowska) wirken wie zwei zeitlose Gestalten, die wenig mit ihrer Umwelt verbindet. Gemeinsam ist ihnen eine morbide Vorliebe für Begräbnisse - Enoch hat seine Eltern bei einem Unfall verloren (und wird seitdem vom guten Geist eines Kamikaze-Piloten heimgesucht), Annabel leidet an einem unheilbaren Gehirntumor, der ihr nur noch wenig Zeit lässt. Gerade diese Beeinträchtigungen machen die beiden füreinander attraktiv. Sie haben eben nichts zu verlieren.

Van Sant, sonst so versiert darin, Bilder mit einer eigentümlichen poetischen Spannung aufzuladen, vermag hier von Anfang an nichts auszurichten. Statt den Szenen Eigenmächtigkeit zu verleihen, werden in herbstlich ausgeleuchteten Freiluftsettings nur naive Lebensweisheiten ausgetauscht. Eine Folk-Dauerberieselung führt dazu, dass sich der Affekt einer vom Tod bedrohten Liebe als ziemlich wirkungslos erweist. Erst gegen Ende, wenn sich eine Sterbeszene kurzerhand als Inszenierung erweist, öffnet Restless momenthaft ein anderes Fenster - zu spät. Hier ist es einmal die stilistische Erbaulichkeit, die einer Geschichte den Atem raubt.  (Dominik Kamalzadeh aus Cannes / DER STANDARD, Printausgabe, 13.5.2011)