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30. April 2011: Die Christianiter feiern die abgewehrte Privatisierung ihres Wohnviertels.

Foto: AP/dapd/Polfoto, Niels Hougaard

Als ihn seine Freundin, die er in Christiania fand, verlassen hatte, fragte sich Klaus, ob er überhaupt noch bleiben sollte. Seine Antwort war: Ja. Der ehemalige Wandergeselle aus Nürnberg hatte vor 18 Jahren im "Bananahus" Station gemacht, nun ist er so etwas wie der Herbergsvater, denn das Bananenhaus, das wegen seiner Form diesen Namen hat, ist noch immer die Anlaufstelle für deutsche Handwerksgesellen auf Wanderschaft in Christiania.

Klaus Naver nennen die Dänen den 44-Jährigen. Naver - so heißen Wandergesellen auf Dänisch. Er ist ein kleiner Mann mit sanfter Stimme, kurzem Haar und warmen, melancholisch dreinschauenden Augen. Christiania ist eigentlich keine Gemeinschaft, sondern ein Minimalstaat, sagt er. Denn es hat sich ja nicht eine Gruppe von Leuten zu einem gemeinsamen Projekt zusammengefunden. Christiania war vielmehr ein Vakuum, das aufgefüllt wurde. Die Uneinigkeit der Bewohner - als da wären "politische Linke, Hausbesetzerszene, Esoterikhippies, Kleinkriminelle, Pusher, Haschhändler, Obdachlose, Alkoholiker und eine ganze Reihe individualistischer Handwerker" - nutze der Staat aus: "Die haben uns schon in einem großen Maße auseinanderdividiert."

1971 hatte ein buntes Völkchen das verlassene Militärgelände in Kopenhagen besetzt. Es herrschte Wohnungsnot. Die Besetzer nannten die 34 Hektar Fläche entlang der alten Befestigungsanlagen "Freistadt Christiania" und propagierten ein Leben nach streng basisdemokratischen Spielregeln, Regeln, die bis heute gelten, auch wenn Christiania jetzt weniger anarchisch ist, dafür organisierter und komfortabler.

Klaus Naver kennt Hausbewohner, die gar nichts gegen einen Grundbucheintrag für ihre Immobilie hätten - um damit die Regel außer Kraft zu setzen, die von jeher in Christiania gilt: Dein Haus gehört dir nur so lange, wie du es bewohnst! Die Christianiter zahlten nie Miete an den Staat, den bisherigen Grundeigentümer, sondern eine monatliche Abgabe an die Gemeinschaft. Je professioneller und komfortabler das Leben hier wurde, desto höher auch die Abgaben, die jeder in die Gemeinschaftskasse zahlen sollte. Derzeit sind das 2300 dänische Kronen, etwa 300 Euro. Der Betrag enthält Strom- und Wasserkosten, nicht aber die Kosten für Heizung, Gas und Instandhaltung des Hauses. Der Betrag ist für alle gleich, Christiania fragt nicht nach dem privaten Vermögen seiner rund 900 Bewohner. Fest steht nur: Auch Christianiter werden älter, bequemer, bekommen Kinder mit eigenen Ansprüchen und Ansichten, die vielleicht diametral zu jenen der Eltern stehen.

Totale Transparenz

Das Jahresbudget liegt bei 22 Millionen Kronen. Wer wie viel bezahlt hat und wer noch nicht, ist minutiös in einer Tabelle aufgelistet, die in der Postille Ugespejl - Wochenspiegel - veröffentlicht wird. Totale Transparenz. Die Hälfte des Etats geht für Strom, Wasser, Renovierungsarbeiten und Rattenbekämpfung drauf - außerdem für die Grundsteuer. Der Rest geht an das Baubüro, den Kindergarten, den Jugendclub und allerlei andere kulturelle und soziale Aktivitäten. Jeder Angestellte Christianias bekommt ein bescheidenes Gehalt.

Karsten Schobmann, ebenfalls ein Deutscher, den Christiania angezogen hat, gehört zum fünfköpfigen "Byggekontor". Das Baubüro plant Abwasserleitungen, repariert Dächer, stellt Abfalleimer und Recycling-Stationen auf, legt Wege oder neue Rasenflächen an und, gäbe es keinen Baustopp, auch Neubauten. Wir durften uns nicht ausbreiten, sagt Schobmann bitter, dabei haben wir Steuern an den Staat gezahlt, Lokale und Betriebe ordnungsgemäß angemeldet, die von den Altlasten des Militärs verseuchte Erde auf unsere Kosten entsorgt, und wir finanzieren alle unsere Projekte solide und ohne dubiose Kreditaufnahme.

"Wenn ich dran denke", erinnert sich der 53-Jährige, "wie ich 1978 hier ankam: Zuerst habe ich in ein Loch in der Erde gekackt, mit einem alten Ölkanister Wasser von einem Wasserhahn ein paar hundert Meter weg geholt, und Strom hatten wir auch nicht."

Schobmann ist hager und großgewachsen, mit grauem Haarschopf unter der Baseballkappe. Er führt gerne vor, woran sein Herz hängt, auch wenn es mühsam ist für ihn, nach einer Hüftoperation auf Krücken auf den begrünten Wall um Christiania zu klettern. Hausdächer schimmern durch den Blätterwald, das Badehaus, die Fahrradmanufaktur. Dazwischen ein paar Verbindungsstraßen und ein verwinkeltes Netz von Pfaden. Fahrradfahrer mit Kinderanhänger ziehen vorbei, Lasträder, meist zusammengeschraubt vom legendären Betrieb Christiania Bikes in der Freistadt selbst. Selten ein Auto. Wenn, ist es ein Lieferant, der das Biosortiment des Einkaufsladens auffüllt oder ein Elektroauto, mit dem Rohre oder Hölzer vom eigenen Baumarkt geliefert werden.

Seit kurzem gibt es einen eigenen zufahrtsbeschränkten Parkplatz mit einem versenkbaren Poller in der an sich autofreien Siedlung. 137 Autos sind auf Christiania-Bewohner zugelassen. Die meisten parken in langer Reihe gleich außerhalb der Freistadt-Grenzen. Wir Christianiter zahlen Steuern, so die Selbstrechtfertigung, arbeiten oft in der Stadt - warum sollen wir keine öffentlichen Flächen benutzen dürfen?

Christiania wirkt zu weiten Teilen wie ein grünes Dorfidyll. Für einen Stadtplaner ein einmaliges Filetgrundstück mit direktem Wasserzugang, ruhig und zentral gelegen, zudem autofrei, jedenfalls fast. Dass sich der Staat auf den Verkaufspreis von 150 Millionen Kronen (umgerechnet 20 Millionen Euro) eingelassen hat, darf als Zugeständnis an die Christianiter gewertet werden, die unendliche Geschichte der ungeklärten Eigentumsverhältnisse so zu beenden, dass keine der beiden Seiten das Gesicht verliert. Denn die Grundstückspreise auf dem freien Markt bewegen sich auf deutlich höherem Niveau.

Der Fantasie der Häuser in der Freistadt sind keine Grenzen gesetzt, Bauvorschriften musste niemand beachten. Zwischen liebevoll renovierten Häuschen stehen auch mal mehr, mal weniger verfallene Bauwägen und verwilderte Ziegelhütten. Hier einen Platz zum Wohnen zu ergattern ist nicht leicht. Manchmal bewerben sich 25, manchmal hundert Leute für eine Wohnung.

Problem Drogenhandel

Wenn von Christiania die Rede ist, muss auch die Pusher Street vorkommen. Den Straßenzug Christianias mit seinem mehr oder weniger offenen Drogenhandel gab es schon immer. Aber vor zehn Jahren wurde noch kein Krieg ums Territorium geführt, ein Krieg, dem die Christianiter - ebenso wie die Polizei - hilflos ausgeliefert scheinen.

Werden die neuen klaren Besitzverhältnisse in Christiania das ändern? Noch vor kurzem war die Nervosität in der Pusher Street greifbar. Auf Tischchen hielten Dealer Marihuana und Hasch-Päckchen feil. Wer sich näherte, ohne sofort zu kaufen, wurde feindselig angeschaut. Die "No Photo"-Zeichen rundum waren unübersehbar; halbwüchsige Aufpasser sorgten dafür, dass sie eingehalten werden.

Der Drogenhandel ist ein Problem, der Kredit, den die Christianiter nun aufnehmen müssen, um dem Staat die 20 Millionen Euro zu überweisen, ein anderes. Wie teuer es in Zukunft werden wird, in Christiania zu leben, ist noch unklar. Klaus Naver, der ehemalige Wandergeselle, war jedenfalls immer misstrauisch gegenüber Verhandlungen mit dem Staat: "Ein Teil seiner Politik hat mit Neid zu tun, damit, dass diese armen Arschlöcher in der ersten Reihe sitzen, und die haben nicht in der ersten Reihe zu sitzen, die haben dort zu sein, wo sie hingehören. Unser größtes Schreckgespenst war immer die Privatisierung, in diesem Moment wäre Christiania tot gewesen."

Die Privatisierung ist nun abgewendet. Eine der größten Touristenattraktionen Dänemarks, ein Markenzeichen für Toleranz, Graswurzelkultur und alternativen Lebensstil bleibt, so scheint es, erhalten. Der nun gefundene Kompromiss ist um so überraschender, als die Christianiter erst im Februar einen Prozess gegen den dänischen Staat verloren hatten. Damals sprach der oberste Gerichtshof dem Staat das volle Nutzungsrecht über das Gelände zu.

Knud Foldschack, einer der bekanntesten Rechtsanwälte im Lande, der auch die Interessen der Christianiter vertreten hatte, hatte aber noch einen Trumpf in der Hinterhand. Foldschack hatte schon vor einem Jahr einen Deal mit der Liegenschaftsbehörde ausgehandelt, den die Christianiter am 30. April, einige Tage vor Ablauf des Ultimatums, akzeptierten. Zuvor hatten sie sich eine Denkpause verordnet - und die Zugänge zu Christiania kurzerhand für einige Tage gesperrt. (Alexander Musik/DER STANDARD. ALBUM, 13./14.5.2011)