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Der grönländische Tanztee versickert im Nichts: Jürg Kienberger (li.) und die multikulturelle Marthaler-Schauspielertruppe.
Wien - Das Fernweh - ein nicht zu unterschätzender Themenschwerpunkt der Wiener Festwochen 2011 - hat Regisseur Christoph Marthaler fast ans Ende der Welt verschlagen: nach Nuuk, in die Hauptstadt Grönlands. Dort sind es naturgemäß die Fröste, die eine längere Verweildauer im Freien trotz globaler klimatischer Erwärmungstendenzen nicht geraten erscheinen lassen.
+-0, der neue Marthaler-Abend, mit dem die Festwochen im Museumsquartier (Halle E) starteten, lässt an eine geschlossene Gesellschaft im Zustande der Gemütsverfrostung denken. "Ein subpolares Basislager" hat Bühnenbildnerin Anna Viebrock errichtet: Im Turnsaal-Container grenzt eine Indoor-Sportstätte mit Matten-Puffer an ein Volksschulklassenzimmer. In der Mitte lädt eine Küchensitzecke zum Verweilen ein. Fernweh hat, so Marthaler, ein bedrückendes Nahesein unausweichlich zur Folge.
Die Teilnehmer seiner Grönland-Expedition rekrutieren sich einerseits aus seiner langjährigen Sitz- und Musiziergemeinschaft (Ueli Jäggi, Jürg Kienberger, Bettina Stucky). Zum anderen vermeldet der Schweizer einige Neuzugänge, darunter zwei Grönländerinnen und eine glockenhell singende Sopranistin (Rosemary Hardy aus England), die obendrein das Akkordeon bedient.
Leider markiert der Ausflug in den höchsten Norden zugleich auch den tiefsten Stand der Marthaler'schen Ausdrucksmittel: Die mehr angetippte denn ausgeführte Idee einer Notgemeinschaft, die auf das Wegschmelzen der arktischen Gletscher wartet und sich die darob anfallende Zeit mit der Erprobung ihrer Sangeskünste vertreibt, bleibt eigentümlich blass.
Das grönländische Volk genießt zwar Sitz und Stimme im Kreis der im Treibeis Verschollenen. Durchaus unklar bleibt jedoch der Status der Expeditionsteilnehmer: Als rätselhafter Sprecher fungiert ein Megafon, aus dessen blechernem Mund Zitate u. a. von Juan Goytisolo oder Anna Kim gekrächzt werden. Den Marthaler-Artisten wie dem famosen Jäggi liegt an der trocken-pädagogischen Einübung geistlicher Gesänge ("Tränen sind mein täglich Brot!"). Doch fruchten solche Kolonisierungsbestrebungen herzlich wenig: Eine Einheimische (Gazzaalung Qavigaaq) wirft zum erbaulichen Lied ohne falsche Pietät die Glieder.
Eine Zwischenmahlzeit
Die fehlende Trennschärfe zwischen innen und außen, zwischen bloßem Aufenthalt und enervierender Dauer, lässt +-0 wie eine kaum sättigende Zwischenmahlzeit erscheinen.
Die Abfolge von Stimmungen und Szenen besitzt keine gravitierende Mitte. Das Häuflein Anwesender entledigt sich zu Beginn zwar wahrer Unmengen von Gewand: Seehundfellen, Wattejacken, Boots und Brillen. Wer aber hat das tapfere Fähnlein überhaupt nach Nuuk verfrachtet? Welches Institut forscht nach den Gründen jener Klimaerwärmung, die von einer ebenso gestrengen wie lasziven Lehrerin (Sasha Rau) mit lässigem Kreidestrich an die Tafel gemalt wird: "WORLD CLIMATE SUMMIT, March 15th 2150"?
Antworten enthält ausgerechnet die auch schon etwas abgeschmolzene Science-Fiction-Literatur der 1920er-Jahre: Alfred Döb-lins Roman Berge Meere und Giganten muss herhalten. Hanns Hörbigers berüchtigte Glacial-Kosmogonie kommt ebenso zu Ehren wie eine gesetzliche Verordnung der dänischen Zentralmacht, zum Zwecke der Eskimo-Unterdrückung ausgegeben 1782.
Unterm Strich bleiben die Grotesk-Szenen einer kleinbürgerlichen Weltgesellschaft im Gedächtnis haften: Tanztee-Gruppen, die wie beim Eisstockschießen ihre Handys durch den Turnsaal kicken. Ein etwas müdes Blinzeln hinaus in die Polarnacht. (Ronald Pohl, DER STANDARD, Printausgabe, 14./15.5.2011)