Auf der großen Leinwand am Wladiwostoker Einkaufszentrum Clever House werden den im Stau stehenden Autofahrern nicht nur bunte Werbefilmchen gezeigt. "Das Katastrophenschutzministerium informiert, dass die radioaktive Hintergrundstrahlung in der Stadt in der Norm liegt", wird in großen Lettern mitgeteilt.

Seit dem Tsunami in Japan am 11. März wird in Russlands fernem Osten genau verfolgt, wie sich die Situation in den beschädigten AKWs in Japan entwickelt. Per Livestream überträgt das Katastrophenschutzministerium die Anzeige eines Dosimeters im Internet. Derzeit beträgt die Hintergrundstrahlung in Wladiwostok 14 Mikroröntgen (rund 0,14 Mikrosievert) pro Stunde.

Wladiwostok ist vom Unglücksreaktor Fukushima nur rund 1000 Kilometer Luftlinie entfernt. Das entspricht der Entfernung Wien- Tschernobyl. In den ersten Tagen nach dem Unglück ist in der Hafenstadt zwar die Nachfrage nach Jodtabletten, Rotwein und Dosimetern gestiegen, die große Panik ist jedoch ausgeblieben. "Warum sollten sich die Leute vor Fuku-shima fürchten, wenn wir doch Bolschoi Kamen vor der Haustüre haben?", stellt der 25-jährige Wladimir trocken fest.

Die 40 Kilometer von Wladiwostok entfernte geschlossene Stadt Bolschoi Kamen (Großer Stein) ist der Stützpunkt der russischen Pazifikflotte, wo es immer wieder Probleme mit unbehandelten Atomabfällen gibt. Zum größten Zwischenfall in der Region Primorje kam es im August 1985.
Damals explodierte in der Tschaschma-Bucht beim Nachladen eines Reaktors ein Atom-U-Boot der sowjetischen Flotte im Stillen Ozean. Laut Experteschätzung betrug die Strahlung im Zentrum der Explosion 90.000 Röntgen. Zehn Menschen starben sofort. Auch heute ist die Strahlenbelastung rund um die Tschaschma-Bucht laut Umweltschützern erhöht.

Dafür geben die staatlichen Meteorologen Entwarnung, dass radioaktive Teile aus Japan nach Wladiwostok und zu den vorgelagerten russischen Inseln im Pazifik gelangen. "Wir gehen nicht davon aus, dass die Radioaktivität in großer Konzentration zu uns kommt", sagt Tatjana Zurikowa, Leiterin des hydrometeorologischen Zentrums in Wladiwostok. Die Strömung führe aufgrund des unterschiedlichen Meeresniveaus von Wladiwostok weg.

Posse um verstrahlte Autos

Da der Hafen von Wladiwostok der größte Umschlagplatz für japanische Autos in Russland ist, dauerte es nicht lange, bis erste kontaminierte Fahrzeuge auftauchten. Ende März schlug die routinemäßige Strahlenkontrolle bei 49 Fahrzeugen aus Japan an. Seither stehen die Pkws auf einem abgeriegelten Abstellplatz.

"Da diese Situation einzigartig ist, wusste niemand, wie man _vorgehen soll", erzählt Alexej Dowbysch, Pressesprecher des Wladiwostoker Seehandelshafens VMTP. Die Zollbeamten konnten sich wochenlang nicht mit der Gesundheitsbehörde auf eine Vorgehensweise entscheiden.
Schließlich wurde gegen einen Re-Export nach Japan entschieden und das auf Strahlenschutz spezialisierte Unternehmen Primtechnopolis mit der Dekontaminierung der Ware beauftragt. Die Kosten dafür müssen die Eigentümer tragen. Laut Primtechnopolis-Direktor Iwan Skogorew hängt der Preis vom Grad der Kontaminierung und der Art der Strahlung ab. Durchschnittlich seien rund 20.000 Rubel (500 Euro) pro Auto zu berappen.

Für Ärger unter den Einwohnern sorgen auch Preiserhöhungen bei japanischen Importwaren: Windeln sind seit dem Super-GAU um 50 Prozent teurer.  (Verena Diethelm aus Wladiwostok/DER STANDARD, Printausgabe, 14./15. Mai 2011)