Joachim Bauer: Schmerzgrenze - Vom Ursprung alltäglicher und globaler Gewalt
Karl Blessing-Verlag, München 2011
288 Seiten, 18,95 Euro

Foto: blessing verlag

"Die Chancen für die Selbstzerstörung des Menschen stehen nicht schlecht". Mit diesem lakonischen Satz eröffnet Joachim Bauer seine Philippika wider die Aggression, genauer den Aggressionstrieb. Der musste in den vergangenen Jahrzehnten vor allem dafür herhalten, um das "Böse" im Menschen zu erklären.

Der Aggressionstrieb, von Sigmund Freud in der 1920 erschienenen Schrift "Jenseits des Lustprinzips" unter dem Namen "Todestrieb" postuliert, gilt seitdem als Erklärungskrücke für Gewalt, Mord, Kriege, Genozide, Amokläufe, aber auch für die Auswüchse des globalisierten Kapitalismus. Der Mensch unterliege dem "Trieb zum Hassen und Vernichten", resümierte der Schutzpatron der Psychoanalyse in einem Brief an Albert Einstein. Ein harscher, gleichwohl deprimierender Befund.

Die "Macht des Bösen" hat ausgedient

Der Neurobiologe und Psychiater Joachim Bauer, Autor einer Reihe erfolgreicher Wissenschaftstitel, räumt in seinem neuesten Buch mit Sigmund Freud und der "Macht des Bösen" auf. Stattdessen versammelt er unter dem Titel "Schmerzgrenze - Vom Ursprung alltäglicher und globaler Gewalt" eine Reihe von Gegenthesen, die den Aggressionstrieb als inhaltsleeren Stehsatz entlarven. Aggression, so der Freiburger Universitätsprofessor, ist kein von der Evolution einprogrammiertes genetisches Programm, das darauf ausgerichtet ist, eine natürliche innere Lust an der Gewalt zu befriedigen.

Vielmehr versucht der Autor auf 288 Seiten den Nachweis zu führen, dass Aggression kein proaktiver Teil des menschlichen Motivationssystems, sondern ein diffizil arbeitendes Reaktionsprogramm auf Bedrohungen durch die Außenwelt sei.

Ungerechtigkeit verursacht Schmerz

Zum einen, das belegt der Neurobiologe mit zahlreichen Erkenntnissen aus der Gehirnforschung, ist Aggression eine Reaktion auf die Bedrohung der eigenen körperlichen Unversehrtheit. Zum anderen - und das ist Bauers Kernthese - ist sie ein Reflex auf Ungerechtigkeit, Benachteiligung, Demütigung und den Ausschluss aus einer Gemeinschaft. Beides, körperliche Verletzung als auch Benachteiligung, lösen im Schmerzzentrum des Gehirns ähnliche Reaktionsmuster aus, so Bauer. Für den Autor ist das der Beweis, dass soziale Anerkennung und Integration in eine Gemeinschaft genau so wichtig sind, wie die Erhaltung des eigenen Lebens. 

Die Konsequenzen bei Nichtbeachtung sind in beiden Fällen ident: Wird diese Schmerzgrenze überschritten, reagieren die Menschen mit Aggression - bloß findet die nicht immer den eigentlichen Verursacher des Schmerzes, sondern kann Unschuldige treffen und so eine - für Außenstehende oft unerklärbare - Spirale der Gewalt in Gang setzten.

Kein "permanenter Kriegszustand"

Joachim Bauer nimmt sich viel Raum, um seine Thesen und Argumente wider den Aggressionstrieb mit Forschungsergebnissen abzusichern. Die Stoßrichtung ist bereits aus seinen Bestsellern "Prinzip Menschlichkeit - Warum wir von Natur aus kooperieren" oder "Das kooperative Gen - Abschied vom Darwinismus" (beide bei Hoffmann und Campe) bekannt. Auch diesmal gibt Bauer den Universalisten, der Hardware (Gehirnforschung) und Software (Psychologie, Soziologie) unvoreingenommen zusammen führt. "Die Grenzen zwischen "sozial gelernt" und "biologisch verankert" sind keineswegs aufgehoben, aber fließend," betont der Autor.

Hart zieht er hingegen gegen Freud und die biologischen Theorien von Konrad Lorenz und Richard Dawkins ("Das egoistische Gen") zu Felde. Lorenz, in der Fachwelt nicht nur aufgrund seiner Nähe zum Nationalsozialismus mittlerweile eine Persona non grata, weist Bauer gleich mehrfach inhaltliche Widersprüche nach. Aggression als "primärer Instinkt", ein "permanenter Kriegszustand" des Urmenschen - für Bauer ist das blanker Unsinn. Bestenfalls als Stichwortgeber für rückwärts gewandte Biologisten darf der österreichische Nobelpreisträger herhalten.

Kooperation schlägt Aggression

Wie überhaupt der Autor mit dem Mythos aufräumt, die Ausbildung von Aggressionen sei eine Grundvoraussetzung für den Sieg im Evolutionswettlauf gewesen. Jener Urmensch, der als mordlüsterner Jäger das Überleben seiner Sippe nur garantieren konnte, indem er kaltblütig das Wild erlegte und den ebenfalls daran interessierten Nachbarn kurzerhand erschlug, wird da noch immer als legitimer Ahnvater der Gewalt angeführt. Ein populärer Irrtum, allenthalben. Denn nicht "Demonic Males" oder "Man the Hunter" waren Joachim Bauer zufolge das evolutionäre Erfolgsmodell der Spezies Mensch, sondern Intelligenz, weitgehender Egalitarismus, Geschlechterparität und vor allem Kooperation, also die Bildung von Gemeinschaften.

Doch damit war es am Ende der neolithischen Revolution jäh zu Ende. Zwischen 7500 und 6200 v. Chr. verschwand im "fruchtbaren Halbmond", einem Gebiet, das heute das Jordanland, die östliche Türkei und den Norden Syriens und des Iraks umfasst, eine blühende Ackerbau- und Siedlungskultur. Was der Grund für diesen in der Forschung "Event" genannten Einschnitt war, ist wissenschaftlich umstritten. Am wahrscheinlichsten ist jedoch, dass die natürlichen Ressourcen zur Neige gegangen waren.

Spaltpilz Eigentum

Für die einst friedlich in Kleingruppen zusammen lebenden Siedler hatte die Verknappung jedoch weitreichende Folgen. Viele zogen weg, jene die blieben, waren erstmals gezwungen, sich in großen hierarchischen Systemen zu organisieren. Die alten, egalitären Formen des Zusammenlebens funktionierten nicht mehr. Stattdessen war eine spezialisierte Arbeitsteilung in einer "produzierenden Wirtschaft" notwendig. Der Mensch erfand das Eigentum, das ökonomische Prinzip und in weiterer Folge Neid, Streit und Eifersucht. Die Folge waren Fehden und gewalttätige Konflikte, die mit eine Ursache für das Ende dieser Kultur gewesen sein könnten.

Für Joachim Bauer ist diese "Vertreibung aus dem Paradies" ein paradigmatisches Ereignis in der Menschheitsgeschichte: Denn "seither ist die Situation unserer Spezies gekennzeichnet durch einen Wettlauf zwischen den Problemen, die sich uns in einer Welt der knappen Ressourcen entgegen stellen, als auch den von uns hervorgebrachten, immer wieder neuen intelligenten Lösungen." Vor allem aber, so Bauer, sei mit der Einsetzen dieses zivilisatorischen Prozesses auch zwischenmenschliche Beziehungen zu einer knappen Ressource geworden. Eine Entwicklung, die - folgt man Bauers Dogma von der kognitiven Schmerzgrenze - als Lebensbedrohung wahrgenommen wurden.

Die Erfindung von Religion und Moral

Mit der zunehmenden Entfremdung war nun - quasi systembedingt - "das Böse" in der Welt. Eine fatale Entwicklung, der die Menschheit mit der Institutionalisierung von Gemeinschaftserlebnissen begegnete, besser bekannt als Religion und Moral. Doch beide sind bloß Solidaritäts-Generika mit schweren Nebenwirkungen: Die Geschichte ist voller Beispiele dafür, dass Religionen per se nicht dazu geeignet ist, dem "Guten" zum Sieg zu verhelfen. Moralsysteme hingegen, so Bauer, dienen zwar der Ausbildung einer Wertegemeinschaft, markieren aber meist eine scharfe Grenze zwischen dem eigenen und einem fremden Kulturkreis.

Als den gefährlichsten Spaltpilz der Menschheit des 21. Jahrhunderts identifiziert der Autor nicht zuletzt den "Raubtierkapitalismus". Das Streben nach Gewinn führt zu einer sozialen Segementierung und einer als schmerzhaft erlebten Ausgrenzung aus der Gesellschaft. "Wir spüren die gefährlichen Folgen des als "Ökonomismus" bezeichneten Versuchs, die Herrschaft des ökonomischen Prinzips über das "Prinzip Menschlichkeit" zu stellen", lautet ein Fazit von Joachim Bauer im letzten Kapitel.

Gerechtigkeit ist Gewaltprävention

Treffend - und gleichermaßen bekannt ist dieser Befund. Wie überhaupt es Bauer im letzten Teil seines Buches nicht so recht gelingt, die eingangs zusammen getragenen Argumente zu einer konzisen Phänomenologie der Gewalt zu verschleifen. So erhellend, so lesenswert seine Zusammenschau einer Geschichte der Aggression ist - der Versuch, sie auf die Realpolitik des 21. Jahrhunderts umzulegen bleibt bruchstückhaft.

Mit großer Geläufigkeit (und zahlreichen Quellenverweisen) löst Joachim Bauer hingegen das im im Untertitel formulierte Versprechen, den "Ursprung alltäglicher und globaler Gewalt" zu sezieren, ein. Ein Merksatz aus Joachim Bauers Buch sei an dieser Stelle allen Politikern, Unternehmern und Religionsführern empfohlen: "Gerechtigkeit ist für eine Gesellschaft die beste Gewaltprävention." (Stefan Schlögl, derStandard.at, 16.5.2011)