Das treibt ihn immer noch innerlich um, einen der großen alten und immer noch äußerst beliebten deutschen Politiker, Bundeskanzler a.D. Helmut Schmidt (1974-82): Die aufwühlende Debatte um die Grundwerte Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität in den 70er-Jahren, der deutsche Terrorismus im Herbst 1977 und der bösartige Vorwurf von Oskar Lafontaine in einem "Stern"-Gespräch (1982), mit den von Schmidt gerühmten Verhaltensweisen "Pflichtgefühl, Berechenbarkeit, Machbarkeit, Standfestigkeit" könne man als "Sekundärtugenden" auch "ein KZ betreiben". Dazu die Erkenntnis, dass der Frieden in der Welt durch viele soziale, politische und ökonomische Verwerfungen gefährdet ist. So hat der im 93. Lebensjahr stehende Mitherausgeber der "Zeit" (seit 1983) sich noch einmal aufgerafft, seinen in diesem Frühjahr zusammengestellten Band mit "Reden aus den letzten zehn Jahren" unter dem Titel "Religion in der Verantwortung - Gefährdungen des Friedens im Zeitalter der Globalisierung" am 2. Mai im Gespräch mit dem 87-jährigen Journalisten Peter Scholl-Latour bei dem ihm jederzeit eine Talkbühne bietenden Reinhold Beckmann (ARD) vorzustellen. Dabei reibt Schmidt sich vor allem an drei zentralen Problembereichen.

Religion als Staatsräson?

In Krieg und Untergang des Nazireichs hatte er den "Zusammenbruch aller Moral" erlebt und „allzu idealistisch" seine Hoffnung darauf gesetzt, dass sich die „Bestie Mensch durch Religion zähmen" lasse. Wenn aber nichts ohne den Willen Gottes geschehe, so habe der Gott des Christentums mit der Zulassung von Auschwitz seine Allmacht eingebüßt. In der Schmidt'schen Sicht sind die Nazivernichtungskriege und Konzentrationslager Bankrotterklärungen eines ohnmächtigen Gottes, dessen wunderwirkender Sohn Jesus Christus mit Jungfrauengeburt, leerem Auferstehungsgrab und Himmelfahrt für ihn "lediglich seltsame Geschichten" seien: "Ich konnte nicht glauben, dass Gott seinen Sohn auf die Erde geschickt hat, um ihn dort kreuzigen zu lassen und am Ende in den Himmel aufzunehmen." Immer habe er in den Kirchen der wunderbaren Kirchenmusik gelauscht, aber zu beten blieb ihm „fremd". Alle Religionen entstammten nach Schmidts Meinung dem "Bedürfnis des Menschen nach Orientierung an einer höheren Wahrheit" und seien im Kant'schen Imperativ verwurzelt; in Schmidt'scher Diktion: "Was Du nicht willst, dass man Dir tu', das füg' auch keinem Andern zu." Der pluralistische Staat mit seiner offenen Gesellschaft und deren "Dilemmata zwischen Freiheit und Ordnung" basiere in Deutschland auf einem Grundgesetz, das kein "voll durchgestaltetes, ganz eindeutig klares Menschenbild" vorgebe. Er, Schmidt, nenne sich allein deshalb "immer noch einen Christen und bleibe in der Kirche, weil sie Gegengewichte setzt gegen moralischen Verfall in unserer Gesellschaft und weil sie Halt bietet". Schmidt zitiert Thomas von Aquin und führt aus, das Christentum postuliere die "drei religiösen Tugenden: Glaube, Liebe und Hoffnung" und „daneben" als "vier Kardinaltugenden" die Klugheit, Mäßigung, Gerechtigkeit und Standfestigkeit oder Zivilcourage. Aber "keiner der christlichen Tugendkataloge" enthalte "Achtung und Respekt vor der Würde der einzelnen Person". "Dagegen" habe das Grundgesetz die "Würde des Menschen" zum "Grundstein unseres Staates" erhoben.

Diese Analysen sind bemerkenswert; verkennen sie doch zum einen den diesseitiger Mächtigkeit entsagenden Charakter des Christentums in Abhebung zu den anderen monotheistischen Religionen und zum zweiten den abendländischen Begriff der menschlichen Person mit ihrer Individualität, ihrer Sozialfähigkeit wie auch sozialen Bedürftigkeit und ihrem transzendenten Sinnbezug; dies war aber schon für die Ethik des Aristoteles ebenso wie für die Ausformulierung und Ergänzung der Tugendlehre bei Thomas von Aquin maßgebend. Vieles davon ist auch in den Freiheits- und Grundrechtskatalog unserer Verfassung eingeflossen; was den Staat über eine bloße Funktion als Notar von gesellschaftlichen Entwicklungen hinaus auch zum Wahrer der Grundrechte jeder Person und als deren Ausfluss der Grundwerte macht.

Theokratie über Demokratie und Ökonomie?

Seit der Schrift des Augustinus von Hippo "De Civitate Dei" (413 n. Chr.), die auch Schmidt zitiert, gibt es gerade durch das Christentum initiiert immer noch andauernde Bemühungen, in innerkirchlichen Konflikten und in der Auseinandersetzung mit Staat und Gesellschaft die religiöse Verkündigung und die kultischen Handlungen aus dem politischen Tagesgeschehen herauszulösen und kirchliche Institutionen dem Zugriff wie auch der Verführung staatlich-politischer Macht zu entziehen. Mit Recht moniert der Altkanzler auch heute noch zuweilen zutage tretende Grenzüberschreitungen von Klerikern in den politischen Raum hinein und erklärt: "Es gibt ganz gewiss Christen in der Politik, es gibt gewiss christliche Politiker - aber dass es eine christliche Politik gäbe, daran habe ich allergrößte Zweifel." In seiner Pastoralkonstitution "Gaudium et Spes" hatte das 2. Vatikanische Konzil (1962-65) bereits die „Autonomie der irdischen Wirklichkeiten" und damit die Eigenständigkeit der Politik, der Kultur und auch der Wirtschaft als originäre Aufgabenbereiche der Laien in der Welt hervorgehoben. So ist die Schmidt'sche Anschauung, das deutsche Volk sei nach 1945 für Freiheit, Demokratie und Rechtsstaat erst durch die ökonomischen Erfolge Ludwig Erhards und die amerikanische Marshall-Hilfe „empfänglich" geworden, insoweit verständlich, als er diese "Teilwahrheit" mit der Einsicht verknüpft, dass „eine Demokratie gefährdet ist, wenn die Regierenden Wirtschaft und Arbeit nicht einigermaßen in Ordnung halten". Seine Zustimmung zur Marx'schen These, es sei "das ökonomische Sein, welches das Bewusstsein bestimmt", offenbart allerdings ein eher materialistisch dominiertes Menschenbild.

Ein synkretistisches Weltethos als internationale Friedensmoral?

Den von Samuel Huntington 1993 vorhergesagten "Clash of Civilazations" hält Schmidt „für denkbar". Von den vorhandenen religiösen Strömungen attestiert er dem Buddhismus die größte Friedensfähigkeit. Dem „Übel des Missionsgedankens" misstraut er grundsätzlich: "Wer Andersgläubigen seine eigene Religion aufdrängen will, der ruft zwangsläufig Konflikte und in manchen Fällen Kriege hervor." Als Ausweg mit mehr religiöser und ideologischer Toleranz votiert er für die von dem Schweizer Theologen Hans Küng geleitete Initiative, aus den Religionen der Welt ein gemeinsames, quasi synkretistisches "Weltethos" zu entwickeln. Damit weicht er die Wahrheitsfrage in einem ethischen Minimalkonsens auf, durch den eine Verwurzelung in einem darwinistischen Entwicklungsmythos durchschimmert.

Denn wenngleich Elder Statesman Schmidt „das im Völkerrecht geltende Gebot der Nichteinmischung von Regierungen und Staaten in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten" preist, so bleibt doch der Eindruck, dass er in der Tagespolitik (bspw. betreffend seine Zustimmung zur NATO-Intervention in Libyen) mit einer pessimistischen Weltsicht eher einer interessengeleiteten Außen- und Sicherheitspolitik nach Prägung eines Henry Kissinger denn einer Bändigung von Konflikten und einer Befriedung anarchischer Zustände durch die Herrschaft und die Sanktionsmechanismen des Völkerrechts zuneigt.

Der Wiener Kardinal Franz König war dem Altkanzler als Freund ans Herz gewachsen; im Bewusstsein, bald sterben zu müssen, hatte der Kardinal dem Kanzler beim letzten Abschied als Vermächtnis mit auf den Lebensweg gegeben: "Herr Schmidt, vergessen Sie nicht die Kraft des persönlichen Gebets!" Als dieser einige Jahre später das Grab des Freundes in Wien aufsuchte, gab es für den oft der Schneidigkeit und Arroganz geziehenen "Schmidt Schnauze" kein Halten mehr: "Mir kamen die Tränen der Erinnerung an diesen weisen Mann - und um die Tränen zu verbergen, habe ich zu dem begleitenden Monsignore irgendeine burschikose Bemerkung gemacht." Noch scheint der alte Mann nicht am Ende seines Weges angelangt - doch immer mehr stellt er sich und seinem Publikum jene Fragen, die auch bedeutende Menschen auf dem Sterbebett bewegen. (derStandard.at, 23.5.2011)