Frau Föderl-Schmid hat in ihrem Kommentar vom 19.05.2011 auf die heftige Kritik seitens der Wirtschaft an der österreichischen Politik geantwortet und dabei jenen wunden Punkt angesprochen, der tatsächlich Anlass zur Sorge bereitet: Während Zivilgesellschaft und Wirtschaft scheinbar einige ihrer Hausaufgaben in letzter Zeit erfolgreich absolviert haben, hinken Politik, politische Akteure und die Gestaltung der politischen Kultur in Österreich zurück, wie die populistischen Scharmützel, das Nicht-Angehen großer Reformvorhaben und die generell abwesende gesellschaftliche Vision schmerzlich offenbaren.

Globaler Kontext, oder: demographische Wendezeiten?

Nun leben wir in recht stürmischen Zeiten, größere Umbrüche globaler Natur spielen sich beinahe tagtäglich ab und viele der Gewissheiten, die für die letzten beiden Generationen gegolten haben mögen (wie etwa die immerhin eine gewisse "Stabilität" bietende Polarisierung der Weltmächte im Kalten Krieg), sind heute schlicht nicht mehr aufrecht zu halten. Die mehr oder minder erfolgreichen (ob, das wird sich noch zeigen wird) Revolten in den arabisch-muslimischen Staaten haben dabei vorgemacht, was nebst vielem anderen vor allem das Denken in demographischen Strukturen befeuern sollte.

Denn global gesehen hat sich eine junge, oft missverstandene, aussichtslose und sich betrogen fühlende Schicht gegen die eingefahrenen Strukturen und Bedrohungsszenarien der alten Eliten aufgelehnt. Wesentlicher Teil ihrer Ermächtigung war dabei nicht nur das heutige Informationsangebot, sondern überhaupt die Einbeziehung dieser Informationen auf eine technisch dynamische Art und Weise, welche die alten Strukturen überforderte.

Mehr als Repression fällt den alten Eliten dazu kaum mehr ein, wie etwa temporäre Netzsperren, Zensur oder sogar nationsweite Abschaltungen von Telekommunikationseinrichtungen zeigen. Doch die gegenwärtigen sozialen, ökonomischen und ökologischen Krisen, die, wie oft argumentiert wird, nicht unbedingt auf regionalen Regulierungsdefiziten beruhen, sondern eher mit globalen Verbundenheiten, institutionellen Konstellationen und ihren Auswirkungen zu tun haben, lassen sich nicht mehr im Rahmen rein nationalstaatlicher - und vermutlich auch nicht rein europäischer - Politik ausreichend behandeln. Dazu passt es auch, dass immer öfter der Vorwurf zu hören ist, dass die globale Finanzmacht die Politiker (auch Österreichs) im Prinzip, das heißt betreffend der Grundspielregeln, ohn-mächtig zurückließe.

Die Antwort der europäischen Politik - statischer Rückzug oder dynamisch in die Zukunft?

In diesem Sinn wäre es zwar simpel, aber zweifach kapitulierend, wenn sich Politik in Europa auf kleinkarierte Geplänkel und Nationalstaatlichkeit zurückziehen würde, da dies ja ebenso den Ängsten und Sorgen der Bevölkerungen entsprechen würde.

Man könnte also persiflierend warnen: Während dieser Rückzug (erkennbar an dem drohenden Aufschwung der rechts-nationalen Parteien in Europa) schon vonstatten geht, muss offenbar - wie einst schon Jahrhunderte zuvor - der geistige Fortschritt (damals Philosophie, Wissenschaft, Medizin; heute verstärkte Demokratieforderung, liberales und pluralistisches Informationsangebot, Rückeroberung des öffentlichen Raumes im Kampf gegen Repression und Überwachung) über Nordafrika und vielleicht Spanien "re-importiert" werden, im Sinne eines politischen Updates. Denn als Antwort schmeißen westliche Mächte, analog zu früheren Kreuzzügen, wo jedoch christliche Metaphysik durch marktfreundliche Metaphysik ersetzt wurde, Bomben für den Frieden - auch und gerade, wenn wie zu eben diesen früheren Zeiten, damit die Gruppe der uns genehmen Fortschrittlichen unterstützt werden soll.

Dass aber jene sich global auflehnende Jugend, wenn sich nicht bald fundamentale Kalibrierungen ändern, dies auch bald innerhalb Europas gegen die Elite der Alten tun könnte, die zwar Wohlstand und Wachstum, aber ebenso den damit verbundenen ökologischen und moralischen Zustand des Planeten zu verantworten hat, sollte ernst genommen werden.

Gemeinwohl und -qualität als Vorschlag für eine neuartige Konzeption politischer Entwürfe

Wie sähe angesichts dieser Konstellation ein Ansatz für die österreichische Politik aus, die diesen Namen auch verdienen würde? Zunächst könnten die Ergebnisse des seit einigen Jahren intensivier-ten wissenschaftlichen Diskurses zu globaler Entwicklung und Gerechtigkeit (Global Justice), zum Fähigkeitenansatz (Capabilities Approach) und gesellschaftlichem Wohlsein (Well-Being) verstärkt in politische Zielvorstellungen eingearbeitet werden. Diese Ansätze bieten eine fundierte Mischung zwischen individualistischen Konzeptionen, in denen Individuen ganz allgemein, und jenseits historisch-ideologischer Grabenkämpfe, nach Erfüllung ("functionings") ihrer - wertfrei - Fähigkeiten, Neigungen und Interessen ("capabilities") in einem ganzheitlichen Sinn streben. Was jemand dabei für konkrete Vorstellungen hat, ist zunächst nebensächlich - solange ein bestimmtes, ethisch fein ausbalanciertes Gemeinwohl nicht zu stark beansprucht wird. Dieses wiederum fußt auf Prinzipien der Gerechtigkeit, welche etwa in den zwei untrennbaren Generationen von Menschenrechten - und zusammengefasst - im nicht-vertraglichen „Recht auf Entwicklung" formuliert werden.

Eine starke rechtliche Komponente, die nicht nur auf Pflichten, sondern vor allem Rechte der Individuen ab-zielt, und damit die diskursive Erarbeitung und Umsetzung eines dementsprechend förderlichen Institutionenrahmens sind also unerlässlich für ein so konzipiertes Gemeinwohl. Letzteres wiederum kann natürlich gesellschaftlich verschieden akzentuiert werden und soll es auch, da das Grundverständnis ein demokratisch-Prozedurales, immerzu Vorläufiges, und keinesfalls Absolutes darstellt, wie es heutzutage die Sozialwissenschaften über Disziplinen hinweg fordern.

Entsprechend zeigt sich aktuell, dass rein liberale Wirtschaftsgläubigkeit, die gerade nicht als Mittel zum weiteren Zweck politisch ausgeschöpft wird, ebenso untauglich ist die Massen zu bewegen und visionär zu einen, wie Überwachung, Kontrolle und Repression im Namen einer vorgeblichen Stabilität und Sicherheit. Gemeinwohl zielt auf mehr: es kann als eine umfassende Hinwendung zu Lebensqualität verstanden werden, die politisch sowohl individuell, kollektiv - im Rahmen eines Staates oder Region -, als auch global propagiert und ausgestaltet werden könnte. Hierbei werden das jeweilig geltende Wirtschaftssystem, Freiheit, Autonomie, politische Methodik und Mittel im Rahmen der Menschenrechte zwar vollkommen respektiert, aber doch einer übergeordneten, pluralistisch zu diskutierenden Zielvorstellung - der umfassenden Qualität der Einzelnen und des Gemeinsamen - untergeordnet. Einseitige Einschränkungen der Freiheit, der ökologischen Ausbeutung oder auch einseitige Aufwertungen der Finanzwirtschaft werden so verunmöglicht, da sie die Gesamtbalance gefährden würden und gleichzeitig auch gesellschaftlich als solche aufgezeigt und analysiert werden könnten.

Wie umzusetzen? Globale Dynamik auch als politisch-methodisches Programm

Ein solcher umfassender, und daher auch international zu vertretender, Anspruch stammt übrigens aus der Einsicht, dass Entwicklung heute kein Programm für die einst „unterentwickelt" genannten Länder (die ja bei weitem keine homogene Einheit darstellen) mehr sein kann, sondern die Welt als Ganze umfasst, wo jeder und jede sein Scherflein beizutragen hat, um es für alle angenehmer zu gestalten. Politiker und Parteien in Österreich wären daher gut beraten, in diesem Sinne neuartige Konzepte zu entwickeln, da ihre momentanen Antworten gegen derart dynamisiertes und zusammenhängendes Denken oftmals steinzeitlich anmuten.

Dazu passend sind die veralteten Methoden, welche nach wie vor demokratiepolitisch zur Anwendung gelangen. Das Festhalten an überkommenen Strukturen offenbart das politische Grunddilemma, nämlich das kurzfristige und zu kurz gedachte Ziel der Wiederwahl, statt experimentierfreudiger Weiterentwicklung, angesichts globaler Überforderung. Wie interessant wäre etwa eine politische Partei, die eine neuartige Methodik formulieren und umsetzen würde.

Zum Beispiel zu Sachproblemen unter Einbeziehung von Experten und Zivilgesellschaft verschiedene Problemvorschläge zu erarbeiten, und diese dann zur Abstimmung den BürgerInnen (Betroffene oder insgesamt) vorzulegen (wie es die SPÖ, leider populistisch-eigennützig, in Wien bei den letzten Landtagswahlen versucht hat)? Wie interessant wäre es, wenn Parteien ohne Akademien und Listenzwängen auskämen, dafür aber frei fließende Interessensverbände und Lösungskommissionen auch über Partei- und Institutionengrenzen propagieren und ermöglichen würde? Wie interessant wäre es, wenn letztlich die global notwendige Weiterentwicklung der Demokratie selbst Ziel der Politik wäre, in dem Sinne, dass das geforderte Mehr an Partizipation eigentlich ein Mehr an Vertrauen der alten Eliten in ihre Bürger voraussetzen würde?

In Zeiten, wo Information zur immer freieren Massenware wird, sind die alten Voraussetzungen für gesellschaftliches Wohlbefinden, nämliche stabile Eliten, die primären Zugang zu diesen Informationen haben, eigentlich obsolet geworden. (Leser-Kommentar, Johannes Waldmüller, derStandard.at, 23.5.2011)