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Beim "Marsch der Lebenden" wird in Budapest alljährlich im April der mehr als einer halben Million ungarischer Juden gedacht, die von deutschen und ungarischen Nazis ermordet wurden.
Nachdem die rechtsnationale Fidesz-Regierung Ungarn eine neue Verfassung gegeben hat, geht sie jetzt offenbar daran, den Holocaust umzudeuten, wohl im Geist des "nationalen Glaubensbekenntnisses", der Grundgesetz-Präambel. Ein Schritt in diese Richtung ist die Entlassung von László Harsanyi, Direktor des Budapester Holocaust-Zentrums für Dokumentation und Erinnerung (HDKE). Harsanyi musste gehen, nachdem er sich geweigert hatte, die ständige Ausstellung des HDKE nach Anweisung des zuständigen Staatssekretärs András Levente Gál zu ändern.
Gál hatte verlangt, dass der Horthy-Aspekt in der Ausstellung anders dargestellt werde. Denn es gebe "keinen kausalen Zusammenhang" zwischen dem Einmarsch der Ungarn in die Nachbarländer und der dortigen Judenverfolgung, sagte Gal in einem Interview, das im Internetportal der Regierung erschien. In der Schau sind Videos zu sehen, die ungarische Truppen unter anderem in der Slowakei zeigen, in einem davon tritt auch Horthy auf. Es geht Gál offenbar darum, die ungarische Mittäterschaft im Holocaust zumindest zu minimalisieren.
Reichsverweser Miklós Horthy (1868-1957) war während seiner Regentschaft (1920-1944) zunächst mit Nazi-Deutschland verbündet. Im März 1944 wurde Ungarn von deutschen Truppen besetzt, im Mai begann die Deportation der ungarischen Juden. Mit betroffen waren auch Juden aus den Nachbarländern Rumänien, Slowakei und Ukraine, weil Ungarn Teile dieser Länder nach den Wiener Schiedssprüchen von 1938/1940 auf Betreiben Hitlers zurückbekommen hatte. Es waren Teile der Gebiete, die Ungarn nach dem Trianon-Vertrag 1920 verloren hatte. Die dortige Judenverfolgung, wie auch jene in Kern-Ungarn, wäre ohne Mithilfe des Horthy-Regimes undenkbar gewesen.
200.000 Helfer der Nazis
Laut HDKE haben etwa 200.000 Ungarn - von Polizisten, Soldaten und Eisenbahnern bis hin zu ärztlichem Personal - den Nazis Beihilfe geleistet. Die SS wäre personell gar nicht in der Lage gewesen, binnen sieben Wochen ohne ungarische Hilfe fast 450.000 Juden in die Wagons nach Auschwitz zu treiben. Etwa 550.000 ungarische Juden wurden von deutschen und ungarischen Nazis ermordet.
Neben der Geschichtsdeutung geht es bei der Fidesz-Übernahme der Macht über das HDKE möglicherweise um viel Geld. Denn dem Holocaust-Zentrum wurden jüngst die Recherchen zu möglichen Rückgabeansprüchen jüdischen Vermögens übertragen, das die ungarischen Nazis enteignet hatten. Auch diese Recherchen will Fidesz nun offenbar kontrollieren. Seit Gründung des HDKE 2006 ist der Staat maßgeblich an der Stiftung beteiligt, die das Zentrum betreibt. Dies war als politisches Signal gedacht, dass die Aufarbeitung des Holocaust Sache aller Ungarn ist, nicht nur der Juden.
Dies kann nun eine Bumerang-Wirkung haben. HDKE-Stiftungsratsvorsitzender ist György Haraszti, Professor am Budapester Rabbinerseminar. Es gilt als nicht ausgeschlossen, dass Haraszti sich in der Geschichtsdeutung der Fidesz-Linie anpasst. Als wahrscheinlicher Nachfolger des entlassenen Harsanyi gilt der Historiker Szabolcs Szita, der keinen schlechten Ruf hat. Ob das so bleibt, hängt von der neuen Holocaust-Ausstellung ab, die wahrscheinlich im Herbst eröffnet wird. (Kathrin Lauer aus Budapest, STANDARD-Printausgabe, 24.5.2011)